25. Chucky

Das Leben kann ganz schön schwierig sein, vor allem, wenn man sich in der Froschperspektive befindet. Beine, meist im Doppelback, eilen hastig vorüber, als wären sie mit Duracell-Baterien bestückt, ohne einen Aus-Knopf zu besitzen. Anhalten verboten. Das schadet den Werbestrategien.

Den Pfützen gehen die Beine nicht aus dem Weg. Vermutlich würde ein Umgehen der Ameisenmeere die Strecke erheblich erweitern. Manchmal versprühen die Pfützen ihr Wasser dann in Chuckys Richtung und benetzen seine Haut, die schon viel zu sehr friert, gefangen in den Klauen der Kälte. Die Beine gehen trotzdem weiter.

Um die Fratzen zu sehen, muss Chucky schon den Kopf Richtung Himmel wenden. Sie starren ihm entgegen wie schlechtgelaunte Türsteher, als wäre es falsch in dieser Welt, hätte sich verlaufen, müsste eigentlich ganz wo anders sein, nur nicht hier. Die Fratzen wünschen sich Abschiebung ins Nirgendwo. Leere Augen stechen aus aussagelosen Gesichtern. Eines gleicht dem anderen, aus keinem leuchtet das Glück. Glück scheint unmodern zu sein in dieser Welt. Glück gibt es dort oben nicht, darum sucht Chucky es unten.

Der Boden ist kalt.

Ein Meer aus Armen und Beinen, übergewichtigen Bäuchen und ausgeschalteten Köpfen wogt sich in unaufhaltsamen Wellen die Straße hinunter. Kein Tropfen wagt es, sich vom Strom zu lösen, zu verweilen, Chucky einen Blick zuzuwerfen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Kein Leben in den Fratzen. Chucky sitzt bewegungslos.

Mechanische Roboter führen Befehle aus, hören darauf, wenn ein werbestrategisch ausgerüstetes Objekt dem Unterbewusstsein ein "Kauf mich!" zuflüstert, folgen dem Gott namens Terminkalender und fürchten den Satan des Unkontrollierbaren.

Keine Zeit, keine Zeit, Anhalten verboten! Betriebsfehler im System? Fick dich, du hast doch keine Ahnung, alles so gewollt! Das verkauft sich gut. Menschen sollen nicht denken, Menschen sollen Geld ausgeben.

Chucky ist ausgestiegen, hat die Batterien weggeworfen. Die Beine waren müde.

Jeder Mensch ist anders, und jeder Mensch ist gleich.

Sie hetzen und starren und fluchen und gieren und geiern und kaufen und hören und reagieren, und sie wissen nicht, was sie tun.

Chucky, vergib ihnen!

Chucky vergibt nichts und niemandem, nicht einmal sich selbst.

Wenn Gnome Gedanken lesen könnten. Einmal hinter diese Fratzen sehen, untersuchen, ob der Raum dazwischen wirklich leer ist. Herausfinden, ob es noch Individualisten gibt oder ob allen die gleiche Festplatte eingepflanzt wurde.

Sie tun, was sie tun sollen, tun, was andere ihnen auftragen, die ebenfalls tun, was sie tun sollen, weil sie es nicht besser wissen, obwohl sie es besser wissen könnten, wenn sie anders programmiert wären.

Chucky sieht sie von unten, sieht ihre hetzenden Beine, die leeren Blicke, die toten Seelen, sieht sie und fühlt. Manchmal denkt Chucky, dass es einfacher wäre, zu sein, wie sie. Manchmal will Chucky aufstehen und die Batterien suchen.


26. Nina

"Hi!" sagt er und verzieht die Mundwinkel, vermutlich, weil er merkt, dass die Steinfließen kalt sind. Nina sitzt schon lange auf den Steinfließen, spürt die Kälte nicht mehr von außen, nur noch von innen. Er zieht seine Lederjacke aus, um sich darauf zu setzen, die Nieten treffen auf Handschellen und es klimpert. Nina mag dieses Klimpern. Und sie mag Benny.

Er lächelt, lächelt sie an, nicht aus, wie all die Fratzen. Sie freut sich darüber, dass er da ist. Dass er angehalten hat.

"Scheißwetter!"

Er stimmt ihr zu, indem er nickt. Novemberwetter. Schon bald Dezemberwetter. Kalter Boden.

"An deiner Stelle würde ich mich zu Tode frieren." Er schaut sie nicht an, als er mit ihr redet. Menschen vermeiden diesen Anblick gerne.

"Och, ich bin das doch gewohnt. Pack mich morgens extra warm ein. Und im Winter läuft das Geschäft am besten. Da sind die Leute irgendwie großzügiger. Weihnachten halt. Die einzige Zeit im Jahr, in der sie an uns denken." Sie halten nicht an. Manchmal redet Nina und merkt erst danach, dass sie wieder gelogen hat, ohne es zu wollen.

Sie blickt wieder auf die Menschen, die an ihnen vorüberhasten. Man sieht ihnen an, dass sie Ziele haben. Den nächsten Drogeriemarkt, eine Bäckerei, die Straßenbahn. Wertlose Ziele. Für wen oder was rennen sie so? Stur gerade aus, ohne sich umzublicken. Falls ihr Blick zufällig auf die beiden Punks fallen sollte, schauen sie schnell weg, um gleich zu verdrängen, dass sie sie sehen mussten. Ihr Anblick ist eine Strafe. Sie sind eine Strafe.

Die Fratzen sind die Bestraften. Doch wer bestraft sie? Nicht die Hast, die sie treibt, die sie nicht zur Ruhe kommen lässt, die ihnen jeden Gedanken an sich selbst zu nehmen droht?

Sie reden nicht, sie sitzen nur da. Schweigen ist nicht peinlich. Für Nina nie. Sie ist es nicht gewohnt, viel zu reden. Wenn sie reden will, redet sie, wenn sie schweigen will, schweigt sie. Und meistens schweigt sie. Es sind nicht oft Wesen um sie, die ihr zuhören würden. Was die anderen darüber denken, ist ihr egal. Und sie weiß, dass Benny froh ist, dass sie schweigt. Auch er will gerade nicht reden. Und deswegen ist das gut so.

Eigentlich reden sie doch, aber ohne Worte. Auch, ohne sich anzublicken. Sie unterhalten sich über das, was sie sehen. Ihre Konversation ist für niemanden erkennbar. Doch Nina weiß, was er denkt, und er weiß, was sie denkt. Denn sie denken das gleiche.

Ein Mädchen läuft vorrüber. Enge weiße Jeans, weiße Helly Hansen-Jacke und blauer Lidschatten. Sie kann nicht laufen in ihren Plateauschuhen. Sie erinnert Nina irgendwie an einen Storch. Da schaut sie die beiden Frösche blöd an, schaut weg, schaut wieder her. Als Ninas Augen sie anfunkeln, geht sie.

Benny und Nina lachen, ihre Blicke treffen sich.

Ninas Brille hat nur einen Bügel. Das sieht toll aus, findet sie.

"Tschuldigung, hätten sie vielleicht ´n bisschen Kleingeld?" Eine junge Frau steht in ihrer Nähe, mustert sie, schüttelt den Kopf. "Trotzdem schönen Tag noch!" Ihre Stimme hat einen netten Tonfall, doch sie ist wütend.

"Scheiß Stadt!"

Nina mag die Stadt.

"Es gibt Städte, da ist es schlimmer. Sei froh, dass wir hier nicht im Osten sind! Und über die Szene hier kannst du dich wirklich nicht beschweren!"

Nina widerspricht Benny. Er ist eben doch nicht wie sie.

Sie schnorrt weiter. Geld bekommt das Mädchen wenig. Sie bemüht sich, hilflos auszusehen.

"Ham sie ´ne kleine Spende für uns?" fragt sie, guckt den alten Mann traurig an, setzt Schauspielkünste ein, die sie nicht immer besitzt. Geld klimpert.

Die Spende ist nicht für beide, nur für Nina. Ist egal, er sagt ja nichts, weiß doch Bescheid. Er hat sicher genug Geld. Auch er könnte ihr bestimmt etwas in ihre Mütze werfen. Doch von Benny will sie nichts. Und er weiß das.

Er sitzt zwei Stunden bei ihr, doch ein richtiges Gespräch will nicht aufkommen. Nicht heute. Eigentlich würde sie gern mehr über ihn erfahren, doch sie will ihn nicht zwingen, etwas über sich preiszugeben. Nein, stattdessen übt sie sich in Geduld. Wenn Menschen reden wollen, dann reden sie auch. Nina ist niemand, der andere zu etwas zwingt.

Sie genießt es, einfach so dazusitzen. Auch wenn ihr kalt ist. Auch wenn sie sich wieder fragt, was sie hier macht, warum sie hier sitzt, tag ein tag aus, hier vorm Karstadt. Sie könnte zu Hause auf dem Sofa liegen, sich Premiere reinziehen und das verputzen, was ihre Eltern ihr vom Mittagessen übrig gelassen haben. Doch sie fühlt sich wohl hier - auf den kalten Fließen, ans Schaufenster gelehnt.

Benny weiß es nicht. Er weiß nicht, was nach Hause gehen in ihrem Fall bedeutet. Es ist besser so. Es würde die bunten Bilder in schwarze Farbe tauchen.

Es tut gut, einfach dasitzen zu können. Nichts zu tun. Nicht von einem Termin zum nächsten zu hetzen, wie sie es früher immer tat. Endlich nicht so zu tun wie die Leute, die an ihr vorbei laufen und sie so aufregen. Eigentlich freut Nina sich ein bisschen, wenn sie sie sieht. Sie sieht, dass sie nicht glücklich sind. Doch sie, sie sitzt hier und hat kein Ziel, nicht hier und jetzt, und sie ist glücklich! Alle Zeit der Welt hat sie, jetzt nach dem Abi. Solange, bis ihr Studium beginnt. Sie ist einfach nur hier, lebt, ohne Ziel und ohne Sinn. Und sie tun ihr leid, die Menschen. Sie tun ihr noch mehr leid, als dass sie sie hasst.

Als Benny gegangen ist und sie nach Hause fährt versucht sie, die Straßenbahn zu überholen.


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