19. Chucky

Chucky fühlt sich gefangen. Zu viele Wände begrenzen zu viele Räume. Zu weit hat sich der junge Gnom von seinem Zuhause entfernt, zu weit ist er fort von den ewigen Weiten unbekannter Bilder. Es erreicht sie nicht, seine Ferne. Nach wenigen unsicheren Schritten fühlt es wieder Widerstand unter seinen Händen, undurchdringliche Mauern, die sich seiner Seele gnadenlos in den Weg stellen.

Das kleine undefinierbare Etwas dreht sich, spielt Kreisel, dreht sich immer schneller und schneller, im Begriff, in andere Welten zu fallen. Seine kurzen Arme werden vom Druck zurückgestoßen, der nichtvorhandene und doch erzeugte Wind fließt durch seine Finger, die Außenwelt verschwimmt in einem Meer von Farben, Konturen verwischen zu optischem Chaos, alles wird eins, unbenennbar. Dinge verlieren ihre Bezeichnungen, vergessen ihre Identität, fügen sich ein in die rauschenden Wellen aus Farbeindrücken.

Chucky droht abzuheben. Es spürt, wie Motoren in seinem kleinen Körper zu rotieren beginnen. Dem kleinen Gnom ist das recht, solange er den Landeplatz selbst bestimmen kann.

Der Wind in seinen Fingern weht stärker, die Farben sind nicht mehr auseinander zu halten, das Gleichgewicht beginnt, seinen Abschied anzukündigen und winkt ein erstes mal in die Runde.

Der Boden entschwindet, Chucky spürt ihn nicht mehr. Chucky kann wieder fliegen. Und kracht gegen eine Wand.

Es taumelt. Klammert sich fest an glatter Oberfläche. Verliert den Halt. Fällt.

Chucky ist abgestürzt, hat sich einen Flügel gebrochen.

Die Welt dreht sich, als hätte jemand vergessen, sie wieder anzuhalten. Obgleich Chucky bewegungslos am Boden kauert, spielen die Farben weiterhin verrückt, haben wohl Gefallen daran gefunden, sich zu vereinen, zu vermischen, zu verwischen.

Chuckys Gehirn dreht sich noch, seine Seele rappelt sich gerade wieder auf, ist ein bisschen lädiert, weil der Absturz so plötzlich kam.

Der kleine Bruchpilot legt sich quer auf den Boden, wieder eine Wand, hält sich fest an ihr, weil das Schwindelgefühl nicht nachlässt, weil es möchte, dass die Welt anhält, sofort! Wenn Chucky einen Magen hätte, würde der ganz schön rumoren, so befindet sich das Übelkeitsgefühl nur im Kopf, im Herzen, in der Seele.

"Ich will aussteigen!" quiekt seine matte Stimme. Zu viele Räume, zu viele Wände, zu viele Grenzen, zu viel Welt.

Chucky sieht Regenbögen, die von Wolke zu Wolke hüpfen, das Ende der Welt. Wenn das Unglück mitten in der Welt so zentriert liegt, muss das Ende der Welt der schönste Platz des Universums sein. Da, wo keine körperlichen Wesen in der Lage sind, Dummheit und Ignoranz zu leben, Intoleranz und Egoismus, dort, wo all diese Wörter keine Bedeutung haben, weil niemand ihren Sinn kennt, ist doch niemand da, der diesen Sinn kennen könnte.

Atmen. Chucky will Luft kriegen. Die Luft ist verpestet von den schlechten Eigenschaften der Menschen, kaum kann sich der Sauerstoff einen Weg hindurch bahnen. Manchmal verirrt sich Musik darin, aber nur manchmal.

Wenn Regen fällt, ist alles besser, denn er reinigt die Luft, säubert sie, haucht ihr einen frischen Atem ein. Die tanzenden Tropfen reißen in ihrem freudigen Enthusiasmus all das Unheil auf die Erde, legen sich darauf, drücken es zu Boden, können es solange zu des Regens Untertan machen, bis es seine erste Chance ergreift und sich durch die leergeregnete Luft wieder nach oben schleicht.

Chucky will raus aus seiner Kistenwelt, will den Wänden aus Panzerglas, die sich auf seine Seele legen, entfliehen. Panzerglas gestärkt durch die Eigenschaften, die sich die Menschen zu eigen gemacht haben.

Innerhalb eines halben Atemzugs verwandelt Chucky sich in ein kleines Monster, wütet durch seine Umgebung, springt Wände an, klettert an ihnen hoch, schlägt auf Wände ein, schlägt sich selbst, sucht Auswege aus seiner körperlichen Hülle. Seine Schreie durchschneiden die Stille.

Leergefegt liegt es auf dem Boden, klammert sich an sich selbst. Hört den Gedanken zu, die durch die Luft schweben.

Und es beginnt zu regnen.


20. Lisa

Die kleine Lisa lauscht dem Regen, der Purzelbäume auf ihrer Fensterscheibe schlägt und verspielte Wettrennen veranstaltet. Mit ihren buntbenagelten Fingern fährt sie Bilder in das beschlagene Glas, bevor sie, sich selbst überholend, in ihre Springerstiefel steigt und die wenigen Stufen hinunterspringt, die ihr bis zur Freiheit fehlen.

Die Straße ist frei von jeglichem unwerten Leben. Die Tiere suchen sich schützende Dächer im satten Grün. Das satte Grün von Lisas Haaren vereinigt sich mit den Regentropfen, die an ihrem Kopf klopfen. Lisas Arme suchen den Weg in den wolkenverhangenen, ach so schönen, Himmel, als ihre Füße das Weite suchen und finden. Ein Lied fliegt ihr entgegen, verfängt sich in ihrem lachenden Gesicht, lässt sie singen. Pogo mit Straßenlaternen! Die Leute werden skeptisch aus ihren dörflichen Fenstern schauen und ihre junge, durchgeknallte ach so komische Nachbarin für noch durchgeknallter und noch komischer und erst recht total verrückt halten. Wie ein bunter Wirbelsturm im tristen Grau der Menschheit fegt sie die Langeweile aus ihrem Leben, entfernt sich ihr Herz von Egoismus und Ignoranz, weist ihr Geist jegliche Intoleranz und jedes Mitläuferdasein von sich. Der Regen durchdringt ihre Kleider, die schwarz-pinke Jeans wird schwer und macht ihre Trägerin leicht. Leicht wie ein Vogel, leicht wie der Wind, der fort weht, in andere Welten, wo es keinen Hass gibt, kein Unverständnis. Dorthin, wo noch die Gerechtigkeit herrscht. Dorthin, wo es das gibt, was wir hier nicht kennen, weil die Menschen im Lauf der Jahrhunderte den Sinn des Wertvollen verkannt haben. Irgendwo schwebt ein Hauch Gerechtigkeit in der Luft und es durchzieht ihren Körper wie ein großer Schluck puren Alkohols.

Fliegen! Einfach fortfliegen! Diese Welt ist nichts für uns! Sie ist nichts für die traurigen Regentropfen, die den Schmutz der Straße in die Kanalisation führen. Sie ist nichts für die Vögel, die in dem verwelkenden Grün nicht mehr viele Dächer finden. Sie ist nichts für die kleine Lisa, die noch diesen Funken Gerechtigkeit in sich spürt, der so vielen anderen Menschen verwehrt blieb, weil sie damit nicht umgehen könnten. Sie ist nichts für diejenigen, die anders denken.

Doch am Himmel erscheint ein Regenbogen und konkurriert mit den Farben in Lisas Haar. Die Sonne schickt ihre Strahlen aus und erleuchtet die nassglänzende Straße, als Lisa einen Schrei loslässt und die Arme ausbreitet, um die ganze Welt an sich zu reißen.

Ihre Augen leuchten und wer genau hineinsieht, erkennt darin die Zeichen des Lebens.

Die kleine Toshi sitzt auf einem Bordstein und betrachtet die letzten wenigen Regentropfen, die auf ihrer Haut perlen. Ihr Lächeln winkt Lisa zu. "Danke!" sagen ihre Augen. Und als Lisa näher kommt: "Ist es nicht schön, das Leben?"


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