23. Chucky

Manchmal hat Chucky richtig Bock, mit einem Maschinengewehr durch die Gegend zu rennen und einfach rumzuballern. Ratatatatata! Auf die Menschen zu zielen, die es hasst. Zuzusehen, wie sich Kugeln ihren Weg durch deren Herzen und Köpfe bahnen. Blut, viel Blut. Obwohl Chucky eigentlich kein Blut sehen will. Wenn man das von Gnomen sagen kann, sind Gnome pazifistisch. Aber manchmal will Chucky einfach alle erschießen, die, wie es auch manchmal, in einer Menschenhaut wohnen. Vermutlich ist dieses Bedürfnis allzu menschlich und Chucky verspürt es immer dann, wenn es sich menschlich fühlt. Gerade im Moment fühlt sich Chucky sehr menschlich.

Scheiß Klasse! Scheiß Leute! Sie haben doch alle keine Ahnung, keinen Schimmer! Sie wissen doch nicht, was Leben bedeutet, was sich im Leben abspielt!

Warum müssen Gnome wie Chucky in die Schule gehen? Warum werden phantastische Wesen wie unser kleiner Held in Räumen mit Menschen zusammengepfercht wie Tiere in Käfigen? Warum versucht man, Gnomen menschliches Wissen einzuflößen? Warum will man ihnen beibringen, Mensch zu sein?

Was hält Chucky in diesem Gefängnis, das es ankotzt wie die Musik, die die Mitgefangenen gerne mögen, auf diesem Stuhl, auf dem es schon viel zu lange sitzt und es deswegen leid ist, hinter diesem Tisch, der ihm nur ein wenig Trost bietet, weil es ihm ein Wenig Wissen hat zukommen lassen: "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden." , "Gesegnet sind die, die nichts zu sagen haben und trotzdem den Mund halten." Von denen gibt es ja leider nicht allzu viele. Wie dankbar wäre Chucky gerade, wenn diese ungewöhnliche Spezies in diesem Käfig überwiegen würde. Einer der Häftlinge redet jetzt seit sicher zehn Minuten, und Chucky kann hinter seinen Worten noch immer keine Aussage entdecken. Ist er jetzt dumm oder Chucky?

"Träume nicht dein Leben, lebe deine Träume!" Chucky ist gut im Träume leben. Aber auch ausgeprägte Fähigkeiten können unterdrückt werden von zuviel Stumpfsinn. Hier, in diesem Raum, der so eng ist, dass man immer denkt, die Wände rücken langsam aufeinander zu, unter diesen Menschen, die Chucky nicht verstehen und deshalb über den kleinen Gnom reden, anstatt zu versuchen, sein Wesen zu begreifen.

Chucky starrt gegen die Wand, um niemanden ansehen zu müssen. Das würde es zu sehr aufregen, annerven, es aggressiv machen.

Was der Vollzugsbeamte redet, interessiert das Unterdrückte nicht. Es ist sowieso der Meinung, dass auch der keine Ahnung hat. Er hat gelernt, was er lernen sollte. Was man ihm eingetrichtert hat, versucht er nun seinen Untergebenen einzutrichtern. Er weiß das, was er wissen muss, um Lehrer zu sein. Mehr weiß er nicht.

Wie kann man ein Klingeln so lieben, das so grausam klingt, dass sich die musikalischen Ohren, die Chucky besitzt, immer vergewaltigt fühlen, sobald eine Stunde beginnt oder endet?

Es ist wohl wieder das erste Individuum, und vielleicht auch das einzige, das alles in seiner Unnützesachenmitsichherumtragvorrichtung verstaut hat - einer schwarzen Bundeswehrumhängetasche mit Aidsschleife daran und einigen Ansteckern - und den Stuhl rückwärts auf den Tisch knallen lässt. Wenigstens dem kann Chucky es heimzahlen, obwohl der ja noch am meisten weiß.

Eigentlich hat Chucky keine Lust, noch ein Wort an diese Menschen zu verlieren, weil Chucky ohnehin nicht gut im Reden ist, trotzdem ruft es ein "Tschüss!" in die Runde, bevor es das Gefängnis eilenden Schrittes verlässt..

Auf der Treppe begegnet es Nox, einem netten Troll, obwohl er vielleicht eher ihm begegnet. Von hinten. Chucky hasst es, wenn es schnell weg will und dann noch irgend jemand meint, es von hinten festhalten zu müssen.

Der Troll will Geld von einem Wesen, das nicht einmal die Bedeutung des Begriffs Geld kennt und noch weniger kennen will.

Chucky bringt seinen üblichen Spruch, den es extra für nette Trolle auswendig gelernt hatte: "Ich dir nix pumpen, du böse. Ich dir pumpen, du nix wiederkommen, ich böse. Besser du böse."

"Bitte! Ich hab echt kein Geld mehr!" Wenn Trolle zu Menschen werden, werden sie blind für Gefühle.

"Ich weiß, du hast nie Geld. Aber ich unterstütze deine Kippensucht nicht. Das dürfte dir mittlerweile klar sein!" Chucky ist nicht mehr Chucky. Mal wieder haben sie unseren kleinen Gnom besiegt.

Raus aus dieser Schule. Raus aus der Menschenwelt.


24. Benny

Wagensau reiht sich an Wagensau. Benny hasst diese Blechkarrossen, die kostbares Benzin fressen, ihre Abgase in unsere Luft spucken und ihm seinen Weg versperren. Er wird keinen Führerschein machen. Er will das nicht. Obwohl er im Auto eigentlich ganz gerne mitfährt, neben seinem Vater auf dem Beifahrersitz zum Beispiel. Das hat etwas Beruhigendes. Da kann die Fahrt nicht lange genug dauern. Er hat dann Zeit nachzudenken, während neben ihm die Gegend vorbeizieht. Aber sein Fahrrad ist ihm trotzdem lieber!

Benny schaut auf seine grünen Stiefel auf den Pedalen. Auf und ab, immer wieder. Die roten Schnürsenkel sind abgewetzt, die Glöckchen klingeln irgendwie nicht so wie sie sollen und die "A"s in ihren Kreisen, die das symbolisieren, von dem der Junge mit den Wuschelhaaren träumt, die sind kaum mehr zu sehen. Abgewetzte Träume.

Er würde jetzt gerne von seinem Rad fallen, auf die Straße fliegen, vielleicht von einem Auto angefahren werden. Nein - er ist nicht lebensmüde. Er will auch ganz bestimmt nicht sterben. Vielleicht ein bißchen verletzt sein, möglicherweise ins Krankenhaus. Da war er noch nie, außer natürlich zu Besuch. Seine Freundin Susi hat da ja ihr halbes Leben verbracht. Schien ihm immerhin so. Wie gerne würde er stürzen. Aber er traut sich nicht. Mal wieder zu feige!

Es ist wie im Chemiesaal. Immer möchte er den roten Knopf herunterdrücken, der mit "Notaus" betitelt ist. Aber noch nie hat er es getan. Auf Benny üben ohnehin alle roten Knöpfe eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Oder auf der Autobahn. Da überfällt ihn immer die Begierde, einfach mal die Autotür aufzumachen. Aus fahrenden Zügen wollte der Punk auch immer schon springen.

Und als vor kurzem der Chemielehrer davor warnte, das Kohlenstoffdioxid aus den Feuerlöschern auf Personen zu sprühen, weil das Erfrierungen hohen Grades auslösen würde, bekam er eine unbändige Lust, das auszuprobieren. Das, was ihn von solchen Taten immer abhält, ist sein Verstand, der ganz sicherlich vorhanden ist, aber meistens von Gefühlen, die stärker sind, gnadenlos untergebuttert wird.

Benny will anderen Menschen nicht weh tun, sie nicht verletzen. Er will das auch sich selbst nicht antun. Vermutlich hat er eine masochistische Ader, aber auf körperliche Schmerzen steht er ganz bestimmt nicht. Aber der junge Musiker will alles mal erlebt haben. Und deswegen möchte er jetzt auf die Straße stürzen und von einem Auto angefahren werden. Doch natürlich stürzt er nicht.

Nervös ist er. Viel zu oft ist er nervös. Nie, wenn er hinaus auf die Bühne muss. Auch nicht, wenn er in Mathe an der Tafel steht und mal wieder keine Ahnung hat. Aber immer dann, wenn er auf dem Weg zu jemandem ist, von dem er nicht weiß, ob derjenige so viel für ihn empfindet wie er für ihn.

Vielleicht sollte er umkehren, die neun Kilometer nach Hause radeln, sich ein bisschen ans Klavier setzen und Billy Joel in die Tasten hauen. "Leningrad" oder "Piano Man". Da hätte er jetzt gerade Lust drauf. Lust auf sein Leben als Musiker. Keine Lust auf ein Leben als Penner.

Und doch will er sie sehen. Aber freut es sie, wenn er kommt? Gestern hat sie sich gefreut. Schien ihm zumindest so. Da hat er ihr sein belegtes Brötchen geschenkt, weil sie Hunger hatte.

Vielleicht ist sie auch gar nicht da. Vielleicht ist sie heute zu Hause geblieben, in ihrer Sozialwohnung bei ihren Ratten, die Benny noch nie gesehen hat. Würde er aber gerne mal. Er mag Ratten!

Noch lieber mag er sie, Nina. Er mag ihre schlaksige Gestalt, die manchmal richtig unbeholfen wirkt. Groß ist sie, fast so groß wie er. Ohnehin ist sie ihm ähnlich. Glaubt er zumindest. Vermutet er. Okay, hofft er! Er kennt sie kaum. Er kennt ihre frechen Sprüche, ihre sympathische Art, die netten Worte, die sie sogar Leuten hinterher wirft, die sie ignorieren. Benny mag sie einfach.

Sein Fahrrad stellt er in einer Seitenstraße ab. So hat er noch ein bisschen Zeit, bis er zum Karstadt gelangt, kann sich noch ein wenig seelisch auf sie vorbereiten.

Und wenn sie diesmal nicht davor sitzt? Wenn sie nicht lässig am Schaufenster lehnt in ihrem blauen Kapuzenpulli und der schwarzen Lederhose? Ist er dann enttäuscht oder erleichtert? So genau weiß er das nicht.

Benny sieht sie schon von weitem.

Sie sieht ihn erst, als er sich neben ihr auf den Boden fallen lässt.


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