13. Chucky

Ein Meer von Buchstaben tanzt vor Chuckys Augen, ganze Sätze spielen Verstecken auf dem grauen Papier. Einzelne Wörter und Bilder bahnen sich erfolgreich ihren beschwerlichen Weg in Chuckys Kopf, doch dort angekommen schlagen sie Purzelbäume und geben sich keinerlei Mühe, sich in einer vernünftigen Reihenfolge oder Ordnung zu formieren, um klare Gedankenkonstruktionen zu ermöglichen.

So faszinierend, dass einzelne Striche, Punkte und Kurven Gedanken auslösen können, Erkenntnisse hervorrufen und die Verständigung zwischen Menschen aller Welt ermöglichen. So überwältigend, dass geschriebene Worte Leben retten und Kriege führen können.

Was sind schon Stift und Papier, wenn man sie zusammenführt? Möglicherweise eine neue Welt.

Literatur ist Leben in schriftlicher Form. Chucky liebt geschriebene Worte.

Doch manchmal finden sie ihren Weg nicht. Manchmal sind die notwendigen Gedankenbahnen verstopft von definitiv nicht notwendigen Störfaktoren. Dann misslingt die Sinnerschließung, die Buchstaben bleiben Buchstaben, die Worte bleiben Worte. Die Umwandlung zu Gedanke und späterer Erkenntnis kann nicht vollzogen werden, da die Innereien des Kopfs geschüttelt und gerührt werden von anderen Gegebenheiten, die in dieser Welt gelegentlich existieren.

Chucky versucht, sich zusammenzurollen, seinen kleinen Kopf dem Herzen möglichst nahe zu bringen, um die Verbindung zu erleichtern. Versuch umsonst, gescheitert.

Seelen in seiner unmittelbaren Umgebung, die es sich unwohl fühlen lassen, die es bedrängen und verdrängen wollen, seinen Kopf verwirren und verirren.

Denken - schwierig. Verstehen - unmöglich.

Gedankenbahnen vibrieren, zittern, bekommen es mit der Angst zu tun, fühlen sich ja auch nicht wohl in ihrer Situation, wollen das doch gar nicht, werden aber damit konfrontiert, man fragt sie nicht. "Man" ist in diesem Fall undefinierbar, aber nichts Positives.

Chucky hat Angst vor sich selbst in solchen Momenten, weil es merkt, dass es sich nicht immer kontrollieren kann, dass die Gedanken nicht immer auf ihren Besitzer hören. Das macht das Leben schwierig, kompliziert und unüberschaubar. Eigentlich mag Chucky das Chaos, ist ein großes Genie, kann es meist besser überblicken als die Ordnung. Doch wenn ihm die Gedanken so entwischen, dass es sie nicht wieder einfangen kann, bekommt es Angst. Die Gefahr, dass sie sich in ihrer Freiheit so wohl fühlen, dass sie nicht mehr zurück kommen wollen, ist zu groß.

Die Musik, die irgendwo aus einer Ecke auf ihn zu strauchelt, streichelt seine Ohren nicht, beißt viel eher hinein. Ein unangenehmer Geräuschandrang, kein beruhigendes Geplätscher. Man erträgt sie nicht immer. In solchen Momenten schon gar nicht. Momente, in denen jedes Geräusch, jedes Ablenkungsmanöver in der Lage ist, das Gedankenfass zum Überlaufen zu bringen, sie entwischen zu lassen.

Chucky sehnt sich nach Stille, ergreifender, alles umhüllender Stille. Stille, die jeden Versuch unwerter Worte, sich Gehör zu verschaffen, im Keim erstickt. Wenn nur Gedanken sprechen könnten. Wenn sich alle Wesen unterhalten könnten, wie Chucky sich mit sich selbst unterhält. Es versteht sich nicht mehr. Seine an sich selbst gerichteten Worte gehen unter im Gesprächsstrom der anderen sich in unmittelbarer Umgebung befindenden Körper. Lautstärke verschafft Gehör, doch wer leise spricht, hat meist mehr zu sagen. Man hört leise Wesen leider nur zu selten, weil es zu viele gibt, die nichts zu sagen haben.


14. Janina

Sie sitzt auf dem Sessel in der Ecke, hat sich extra bemüht, es sich möglichst gemütlich zu machen und möchte die Zeitung lesen, um sich zu bilden, was die aktuelle Politik betrifft, weil ein gewisses Maß an Allgemeinbildung doch von Vorteil sein kann. Janina fühlt sich nicht wohl in der Schule, auch nicht im Oberstufenzimmer, wo sie nie alleine sein kann mit ihren Gedanken. Also versucht sie, wegzutauchen.

Bis das Klingeln, das man eigentlich nicht als Klingeln bezeichnen kann, da man meint, ein Klingeln solle anständiger klingen, sie zum Deutschunterricht rufen wird, bleiben noch vierzig Minuten, welche sie nutzen möchte, um sich vom durch permanente Unterforderung gezeichneten und dadurch anstrengenden Schulmorgen zu erholen und in Ruhe über Rinderwahn und Kopfschüsse zu lesen.

Janina ist noch nicht einmal beim ersten Punkt angelangt, da werden ihre Gedanken gewaltsam in eine andere Richtung gezerrt. Vom Tisch in der anderen Hälfte des Zimmers, an dem eine Gruppe versammelt ist, die vielleicht besser hätte Hausaufgaben machen sollen, tönt ein Geräusch, das man nicht wirklich beschreiben kann, weil dazu die deutsche Sprache, und vermutlich auch alle anderen, zu wenig Wörter zählt. Das Geräusch entschlüpft auf recht penetrante Art und Weise einem Mund, der sich allgemein zu oft öffnet und zu selten schließt und das in einer Lautstärke, die Janina unweigerlich aufhören lässt, obgleich sie sich in Gedanken gerade bei den Palästinensern befindet und Steine wirft. Auf dieses Geräusch hin, das vermutlich etwas ankündigen sollte, folgen zu allem Überfluss auch noch Worte, nämlich: "Gestern Abend musste ich mein Bett frisch beziehen!"

Das aus Gedanken hochgeschreckte Mädchen unterdrückt ein Stöhnen. Man möge meinen, wenn es jemand für nötig hält, eine versammelte Gruppe von humanistischen Gymnasiasten über irgend etwas zu unterrichten, dass dies dann ein Thema sei, welches ein allgemeines Interesse erwecken könne. "Mein Hund hielt es für nötig, die ganze Zeit darin rumzuliegen und als ich heimkam, war die Decke voller Haare." Janina hat keinen Hund. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Aussage dieses Satzes nicht versteht oder zumindest keine besonders schwerwiegende Aussage darin entdeckt. Oder eben kein Interesse dafür aufbringen kann. Interessieren sich Hundebesitzer für überzogene Betten?

Janina zweifelt und findet den Weg zu den Palästinensern nicht mehr, da die Stimme den Raum durchschneidet, als wäre sie aus Glas. Solch ein Glas, das in spitzen und blutdurstigen Scherben mitten auf der Straße liegt, so dass man nicht daran vorbei kommt, sondern darüber laufen muss, um sich von der Stelle zu bewegen. Die Scherben versperren den geistigen Weg in den Osten, Janina kann ihre Sinne nicht dorthin zurück lenken, da diese Stimme so fesselnd, so durchdringend, so magnetisierend jedes Ohr an sich reißt, jeden Sinn gefangen nimmt, um ihn zu quälen, ihn zu foltern und vor allem, um ihn mit höchst primitivem und niveaulosem Input zu füttern.

Sie überlegt, einen lauten Schrei loszulassen, um daraufhin zu verkünden: "Ich habe gestern einen Apfel gegessen!", doch eine Überwindung dazu ist nicht möglich und so versucht sie weiterhin, sich auf ihre Zeitung zu konzentrieren, was immer unmöglicher wird, da sie innerlich zu wüten und zu toben anfängt und alles Dumme und Primitive und dadurch den Menschen im allgemeinen verflucht und noch ein bisschen mehr hasst als sonst.

Die Verzweifelte stopft die Zeitung gefrustet zurück in ihre Tasche. Weil alles Bessere, das sie zu tun hätte, unmöglich scheint und weil die-die-den-Mund-zu-oft-öffnet ihre Sinne ohnehin gewaltsam auf sich lenkt, gibt sie sich der Beobachtung hin und entwickelt eine Art Faszination für den Elan, mit dem die Redende spricht, wie sie ihre Hände dazu bewegt, wie sie sich emotional in ihre so emotionslose Rede hineinsteigern kann, um aus dem Beziehen eines Betts ein emotionales Drama zu machen. So faszinierend die Tatsache, dass sie tatsächlich davon auszugehen scheint, dass jeden Anwesenden ihr Monolog interessiert.

Janina verspürt geistige Schmerzen, da sie beobachtet, wie zahlreiche Augenpaare auf diesen Mund starren, sich an ihm festsaugen. Zweifel beschleichen sie: "Wahrscheinlich bin ich es, die den Sinn und den Witz hinter ihren Monologen als einzige nicht erkennt, vielleicht stelle ich zu viele Ansprüche an Worte und Sätze. Vielleicht haben alle anderen Menschen eine Geheimsprache entwickelt, die ich nicht verstehen kann."

Sie ist froh, als das Klingeln, das viel zu unschön ist, um als Klingeln bezeichnet zu werden, ertönt.


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