09. Chucky

Wenn die Einsamkeit leere Worte haucht und die Leere so tückische Phrasen faucht und die Melancholie es in Ewigkeit taucht und der Gnom nichts so sehr wie ein Gnomenherz braucht, fühlt Chucky, dass das Leben ansich eine komische Angelegenheit ist.

Gefühle, die sprechen lernen, sind eine beunruhigende Gegebenheit und verwirren das kleine Wesen, das mit traurigen Augen an seinen Fingernägeln knabbert und sich dabei an einen Ort wünscht, an dem es Wesen gibt, die es verstehen. Eigentlich würde verstehen wollen auch schon reichen, aber solche Mühe gibt sich ja keiner mehr. Chucky ist zu schwierig, jeder Gedanke an es ist anstrengend, ist geistiges Gewichtheben mit Hanteln, die schwerer sind, als man selbst.

Die Gedankenbahnen versagen schon wieder, haben Schlaglöcher, in denen immer mal wieder ein Gefühl untergeht, in die mit steter Regelmäßigkeit ein Wort purzelt, einen kurzen, lauten Schrei ausstößt und weg ist.

Chucky wünscht sich Hände. Hände, die bereit sind zu helfen. Aber sie würden doch nur wieder verzagen, diese Hände, haben zu oft verzagt. Würden auch nicht helfen können, Hände genügen doch nicht, Herzen sind mehr, so viel mehr. Herzen wissen, was sie tun und gewinnen den Kampf gegen den Verstand meist schon vor dem ersten Angriff.

Die große Seele des kleinen Gnoms führt wieder Debatten mit sich selbst, lässt rhetorische Frage auf rhetorische Frage folgen, während große Gefühle zu seinem Herz eilen und mit aller Kraft anpacken, um es wegzutragen.

Während seine dunklen Augen die triste Umgebung nach Zärtlichkeit anflehen, spürt Chucky die eisigen Winde, die es einhüllen, als würden sie es auf frosthaltigen Schwingen entführen wollen. Auch die Winde verstehen Chucky nicht und sehen nur die Lüge, die große Lüge des Lebens.

Auch Gnome können sich Verlieben, und das Verlieben ist eine sonderbare Sache. Gefühle werden transmittiert, multipliziert und umstrukturiert, nicht zuletzt aber gewaltig verwirrt, gerade dann, wenn manifestierte Gedanken sich verirren.

Die Lage könnte so offensichtlich sein, wäre die Realität nicht in verschiedene Ebenen gegliedert, deren Verlauf von einfachen Gehirnen nicht nachvollzogen werden kann und wären Gefühle nicht der Teil des körperlichen Wesens, der mit besonders großer Vorliebe von Realitätsebene zu Realitätsebene hüpft, zwischendurch ein paar Saltos schlägt und irgendwann auf einer besonders glitschigen Realitätsebenenstraße ausrutscht und auf die Nase fällt.

Chucky ärgert sich und beschließt für sich, dass negative Gefühle wie Verliebtheit nicht zu dem gehören, was es gerne hat. Solche Gefühle fressen die Seele auf und lassen nicht viel zurück, sie machen ein schlechtes Gefühl dort, wo bei Menschen der Magen ist und verwirren die Gehirnzellen so, dass sie Freude darin finden, sich dumm zu stellen.

Die kurze Kreatur kennt das Wort dafür nicht, doch sie fühlt sich schlapp, schlapp im manchmal vorhandenen Körper und schlapp im momentan metamorphierenden Geist. Sowohl im einen als auch im anderen ist keinerlei Bewegungsdrang vorhanden, nur das Gefühl einer drastischen Schwäche, die einen gerade noch so überleben lässt, aber alles andere unmöglich macht. Chucky möchte wach werden. Irgendwie.


10. Max

Der Kaffee schmeckt nicht, obwohl er natürlich fair gehandelt ist und zu Kompostierung, Unkrautregulierung, Anlage von Schattenpflanzen und Maßnahmen gegen Bodenerosion dient. Indianische Kleinbauern sind jetzt vielleicht glücklich, Max nicht. Die Ökomilch hat er mal wieder vor dem Kaffee in die Tasse gegossen, ist viel zu gedankenverloren an diesem Morgen. Wo sie hin sind, weiß er nicht. Will er auch gar nicht wissen.

Es ist schon zu hell, als dass Kerzen das Zimmer gemütlicher machen könnten, der Strickpulli ist zu warm, doch die Faulheit scheint die Hitze zu besiegen.

Trantütentag.

"Too small for Basketball" liegt jungfräulich auf dem Kopfkissen, auf dem Einband ein pubertierendes Mädchen, das vermutlich schnippisch gucken sollte, aber statt dessen aussieht, als würde sie ihren vom Leser repräsentierten männlichen Gegenüber mit Haut und Haaren fressen wollen, wozu sie wahrscheinlich sogar in der Lage wäre. Das Buch sollte ein Witz sein, doch Trivialliteratur ist nichts für diese Tage und außerdem ist Max nicht klein, nur ziemlich kurz geraten.

Seine Lebenslüge hat ihn eingeholt, und jetzt würde er am liebsten auf der Stelle heiraten.

Eigentlich ist Max schon zu alt für Kuscheltiere, doch der Teddybär ist und bleibt der unschlagbare Tröster in größter Not, wobei es vermutlich sogar am sinnvollsten wäre, ihn zum Traualtar zu schleppen, doch der Teddybär will nicht heiraten und ist noch viel kürzer als Max, da würde das ja gar nicht passen, also schüttelt er den Kopf zu so viel Stumpfsinn und brummt vor sich hin und hört zu.

Nie gedacht, dass es Langeweile wirklich geben könnte. Er hatte es für ein Gerücht gehalten.

Einsamkeit und Alleinsein sind zwei ganz verschiedene Sachverhalte, aber beide zusammen sind schlimm, greifen viel zu tief und reißen große Stücke in die Seele.

Nie gedacht, nie gekannt, nie erwartet.

Die Mädchen, die er sein nannte, als er noch nicht wusste, dass man Menschen nicht besitzen kann, sind nichts als Namen in seinem Kopf. Namen, die ihn mochten, weil er schöne blaue Augen hat und lange blonde Haare, in denen man so lange herumwuscheln kann, dass das Kämmen danach wieder über eine halbe Stunde dauert. Aneinandergereihte Buchstaben sind eine leere Angelegenheit, und Max dürstet es nach Fülle, Fülle in Form einer sich vor Lebenslust verzehrenden Seele, einer spirituellen Quelle, deren äußere Hülle nichts als der Gegenpol zu dem wundervollsten Energiehaufen der Welt ist.

Er will sich ... binden, ja das ist das Wort, so schrecklich es auch klingen mag in seinen Ohren, so unmöglich ihm dieser Gedanke zuvor schien. Man kann doch nicht sein ganzes Leben lang mit ein und derselben Person glücklich sein, oder? Kann man? Kann man nicht? Kann er? Kann er nicht?

Der Kaffeegeruch steigt ihm unangenehm in die Nase, verstärkt das Übelkeitsgefühl in der Magengegend, das sich so kein bisschen nach Schmetterlingen anfühlt, eher nach wildgewordenen Killerameisen, die mit ihren sauren Säften jeden Zentimeter seiner Innereien markieren. Warum erzählen immer alle, es sei so schön, sich zu verlieben? Max findet es schrecklich!

Morgens in der Schule rennt er in letzter Zeit immer zuerst auf die Toilette, lässt sich von seinem Spiegelbild versichern, dass sein Lachen wieder lügt, fragt sich Fragen, die er nicht beantworten kann und möchte am liebsten wieder nach Hause, sich unter der Bettdecke verkriechen, so dass höchstens noch die letzten paar Zentimeter Haarspitzen hervorschauen. Die ganzen Tage verhalten sich wie durchdrehende Matheaufgaben, halten keine Lösung bereit und stellen sich immer wieder um.

Er rollt sich in Rückenlage und starrt Löcher in die Holzbalken, die seine Decke sind.
"Leben!" flüstert er. "Leben ist Lieben!" sagt er. "Lieben ist Leben!" schreit er. Und er beißt sich in die Hand, um das Leben in sich zu spüren, schleudert die Arme schwungvoll zur Seite, und die Tasse fällt scheppernd zu Boden, und der fair gehandelte Kaffee ergießt sich über Briefe, die niemals dazu bestimmt waren, abgeschickt zu werden.


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