01. Chucky

Chucky ist ein Gnom, könnte jedoch genauso gut eine Gnomin sein. Bei Gnomen wie Chucky gibt es keine Geschlechtertrennung und gäbe es sie, wäre sie überflüssig. Probleme ergeben sich durch diese Tatsache lediglich bei der Artikelwahl: Der Chucky? Die Chucky? Das Chucky? Da nicht einmal Chucky selbst diese Frage beantworten könnte - davon abgesehen, dass Chucky sie sehr überflüssig fände - belassen wir es bei der Annahme, dass es keine Antwort gibt und geben Chucky den Artikel "das", obgleich - oder gerade weil - dies im Gegensatz zum gewohnten Sprachgebrauch steht, denn wer sich mit Chucky intensiv befassen möchte, muss lernen, Normen zu brechen.

Ab und zu ist Gnom Chucky eine Elfe. Manchmal ist es - mit Sicherheit wird der Leser sich an das "es" gewöhnen, denn mensch gewöhnt sich schnell - zu dick, doch meistens zu dünn. Seine Länge - das Wort "Größe" verwenden wir jetzt nur noch den Geist betreffend - variiert nach Lebenslust und Lebenslaune zwischen 1,50m und 2m. Eine genaue Definition seiner Haarfarbe ist nicht möglich, bevorzugt sind jedoch Kombinationen wie schwarz-rot.

Chucky sieht nicht aus, darum ist es nicht einfach, seine optischen Merkmale zu beschreiben. Es existiert einfach, ohne auszusehen. Man könnte vermuten, das sei eine gnomische Eigenart, doch sollte jemand Chucky fragen, was es ist, würde es mit Sicherheit nicht antworten: "Ein Gnom!", da Chucky das nicht weiß und wenn es das wüsste, dann könnte man auch gegen die Schwerkraft demonstrieren.

"Lasst uns die Schwerkraft umzingeln und so lange ignorieren, bis sie freiwillig geht!" quiekt Chucky zu seinen Füßen, die frei in milder Frühlingsluft baumeln.

Chucky kann fliegen. Immer nur für kurze Zeit. Aber es kann fliegen. Und diese Momente, die es in der Luft verbringt, ohne den so bindenden Boden unter den Füßen, diese Momente sind es, die es Freiheit spüren lassen, von der es doch weiß, dass sie nicht existent ist.

Das Gnom spricht mit sich selbst und den kleinen schwarzen Tierchen, die auf seinen bunten Beinen Verstecken spielen.

"Wenn die Schwerkraft nicht wäre, würden wir alle von dieser komischen, widerspruchsbelasteten Kugel purzeln." Auf seiner Stirn bilden sich Grübelfalten. "Und wenn wir alle von der Kugel purzeln würden, würden wir fliegen, irgendwo da draußen, ganz weit weg." Mit einem Blick auf die kleinen schwarzen Tierchen fragt es: "Gibt es da draußen, ganz weit weg, auch so viele Widersprüche?" und die Versteckkünstler nicken im Laufen und Chucky ist unzufrieden.

"Warum sagen die Leute, der Himmel sei blau?" flüstert Chucky und sieht weiß, während es in sich drin so viele Farben spürt. Farben wie bagura und lakanti, die mensch nie gesehen hat, weil sie nur Gnome wie Chucky sehen können, die die Gabe haben, Blicke in sich selbst zu werfen.

Das kleine Wesen hört die Rufe: "Komm Chucky, flieg. Flieg doch endlich!" Die Engel singen.

Und Chucky fliegt. Und landet in Grün.


02. Kai

Kai wischt sich die erdigen Hände an der verwaschenen Jeans ab und richtet seinen schlaksigen Körper auf, um ihn gleich darauf, begleitet von einem langgezogenen Frühlingsschrei alla Ronja Räubertochter, wieder ins Unterlaub fallen zu lassen.

Mit ausgebreiteten Armen liegt er im Meer der grünen Farben, hält dabei das Grün seiner Augen hinter den Lidern verborgen, und lauscht dem Gesang der Vögel, der jede Sinfonie in den Schatten stellt in seiner unverkennbaren Echtheit.

Die Luft im Wald ist noch zum Atmen da, umspielt seine Nase, hält Einzug in seine Lungen und gibt dem asthmageplagten Jüngling den Glauben an die Existenz von Sauerstoff zurück.

Er weiß, er wird gehen müssen. Doch Kai will nicht gehen. Will das Waldleben, das satte Grün, die Luft und die stille Leidenschaft, nicht verlassen.

Der zu dünne Junge spürt den brennenden Stich einer Mücke auf seiner Schulter, schlägt nicht nach ihr, wie er nie nach Lebewesen schlägt, lässt sie saugen, gibt ihr bereitwillig von seinem Blut. Er hat ohnehin mehr, als er brauchen kann. Hatte schon versucht, Blut loszuwerden, doch sie fanden ihn zu schnell, ließen ihm genug Blut zum Weiterleben.

Als Kai die Augen schließt, spürt er ihre Anwesenheit. Er weiß, dass sie da ist. Sie, wer auch immer sie sein mochte. Fühlt ihre Aura, weil sie sich in ihm befindet, tief in ihm drin, und somit immer bei ihm ist. Doch im Alltagsleben versetzt ihm ihre Anwesenheit nicht diese kleinen angenehmen Nadelstiche in der Magengegend, er sucht oft stundenlang nach ihr, ohne sie zu entdecken. All die großen, nichtigen Gegebenheiten des Alltags erdrücken sie, unterdrücken sie, schieben sie zurück in die hintersten Ecken seines Ichs, so dass die Suche oft zur vergeblichen Suche wird.

Im Wald fühlt er sie. Im Wald, wo keine menschlichen Wesen seine Ruhe stören, wo sie ihn zu sich und zu ihr kommen lassen, wo ihre Gespräche nicht die Stille berauben und ihre Ausdünstungen nicht die Luft verpesten, wo die Schatten ihrer Häuser nicht die Sonne verstellen und die hohlen Gedanken ihrer Köpfe keine öde Leere verursachen.

Ob sie auch im Wald liegt? Ob sie gerade einen Baum umarmt?

Kai springt auf, überlistet für einen kurzen Moment die Schwerkraft und wirft sich gegen einen braunen Riesen, der mit einem letzten Rest Erhabenheit in seinen kranken Zweigen scheinbar bis ins Universum thront. Der Prinz für einen Augenblick schmiegt sich an die duftende Rinde, leckt das austretende Harz, saugt den Baumgeruch in sich auf, fühlt das mächtige Leben in seinen letzten Atemzügen und vereinigt sich mit der Natur, die er zu retten verlangt.

Ein Blick auf die Uhr: "Scheiße, schon fünf!"

Der asthmageplagte Schüler greift nach seinem Rucksack, der in einem Haufen dreckiger Erde liegt, klopft sich die brauneingetrocknete Kruste von seinen Hosen und bahnt sich eiligen Schrittes einen Weg durch schmutziges Laub und dichtes Gestrüpp, bis er nach wenigen Minuten wieder auf der Straße steht. Ein qualmender Blechhaufen donnert an ihm vorbei, reißt sie aus seinem Herzen.

Die langen Beine tragen ihn schnell die Straße hinunter, immer darauf bedacht, nicht auf die Rillen zu treten, von Stein zu Stein, immer ein Stückchen schneller, um ja nicht zu spät im Supermarkt zu erscheinen, wo er für den nächsten Tag die Milch in die Regale stellen wird und die Butter und den Joghurt und den Käse und die Wurst, die nur mit geschlossenen Augen, und die Nudeln und das Mehl und den Zucker und alles andere, was wenige Stunden später raffgierige Menschengesichter an sich reißen werden, um es den kleinen schnappenden Mäulern zu Hause vorzusetzen.

Als er mit einem Satz die drei Treppenstufen erklimmt, die ihn zu dem Hauseingang führen, der zu dem Haus gehört, das die, die sich seine Eltern nennen, ihr Eigen nennen dürfen, und als er den Schlüssel ins Schloss steckt, im Begriff, ihn umzudrehen und als er nach ihr sucht, findet er sie nicht mehr.


Zurück zur Übersicht