05. Chucky

Sie fühlen sich gut an, die stechenden Schmerzen, die sich langsam auf seiner weißen Haut ausbreiten, zielsichere Bahnen ziehen auf seinem Körper. Chucky spürt Leben in sich, das aus ihm herausfließt, riecht dieses Leben, schmeckt es, sieht es, fühlt es.

Große Koboldtränen purzeln aus den schwarzen Gnomaugen, finden sich zusammen zu reißenden Gebirgsbächen, die sich einen Weg in das ungezügelte Leben bahnen. Bach vermischt sich mit Bach, wird zu einem farbigen Wasserfall, der sich ergießt in tausend Tönen.

Chucky sieht sich selbst. Sieht sich von der Seite, von oben, von unten, von innen, von außen. Es möchte sich auf den Kopf spucken, findet seinen Kopf nicht mehr, findet sich selbst nicht, erkennt sich nicht wieder.

Fröhlich plätschernde Wasserfälle aus traurigen Augen.

Der Blick in die unendlichen Weiten, in Welten voller Farben, voller Töne, voller bunter Lieder, gesungen aus grünen Nasen, die herzförmige Mülltonnen durch die Galaxien fahren.

Chucky hebt ab, spürt sich selbst nicht mehr, nur noch als Hülle, vielleicht als zweidimensional. Eine Zeichnung auf einem Blatt Papier. Ein Blatt Papier, das man gerne zusammenknüllt und in den Mülleimer wirft.

Die Schmerzen im Kopf, die Schmerzen im ganzen Körper, erinnern es daran, dass da doch etwas existiert, das Menschen Körper schimpfen, das es aber gar nicht als Teil von sich selbst erkennen und anerkennen kann.

"Bin das wirklich ich? Existiere ich nicht nur in mir?"

Die Bäche erzählen ihm Geschichten, erzählen von längst vergangenen Zeiten, die voll waren von Schweben und Gleiten, Fliegen und Beben. Voll von - wie nennt man das doch gleich? Chucky fällt das Wort nicht ein, das Menschen so gerne verwenden, ohne zu wissen, was es wirklich bedeutet.

Was ist Zeit? Muss man Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gliedern? Es vermischt sich doch alles. Vermischt sich in Chucky, existiert in ihm. Die Zeiten rasen unaufhaltsam durch die Umlaufbahn in seinem Geist, kreuzen sich, fangen sich gegenseitig, lassen sich wieder laufen, überholen sich und schlagen Saltos.

Chucky weiß nicht, wann er sich wo befindet, weiß nur, dass es existent ist, in diesem Augenblick, den es auf keiner Skala einzuordnen wüsste - obgleich Chucky ohnehin nicht weiß, was eine Skala ist.

Die Bäche sind versickert, das Herz steht still, die Zeiten auch. Chucky sieht sich nicht, sieht nichts mehr, nur Dunkelheit, in sich und außer sich. Das Gnom will Licht, schreit nach Licht, fleht nach Licht, wälzt sich auf dem Boden, schlägt die Krallen in sein Fleisch, jammert und schluchzt und wimmert um die Erleuchtung.

Chucky möchte die Bäche wieder in Bewegung setzen. Spürt den stechenden Schmerz, der sich langsam auf seiner weißen Haut ausbreitet.


06. Melissa

Das Blut läuft in kleinen, zärtlichen Rinnsalen ihre Arme hinab, vorsichtig streichelt sie sich über die blasse Haut, die von roten Striemen durchzogen ist. Ihre Augen blicken sie aus dunklen Höhlen an. Der Anblick treibt ihr Tränen in dieselben. Äderchen geplatzt. Alles rot und feucht, rot in schwarz. Schwarze Rinnsale in ihrem Gesicht, der Kajalstift zerlaufen, rot und schwarz, überall rot und schwarz. Auch ihre Haare, die ihr strähnig und ungekämmt ins krampfhaft verzogene Gesicht fallen.

Was sie da im Spiegel sieht, ist kein Mensch mehr. Ist ein kleines Häufchen Elend oder ein großes Stück Scheiße.

Melissa faucht sich an, faucht dieses Wesen an, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickt, das unmöglich sie selbst sein kann, das doch ganz anders ist als sie.

Das Mädchen stellt sich vor, er sei der Mensch, der ihr da gegenübersteht. Er. Wie er sie aus dem Spiegel anblickt.

Und ein Zittern durchläuft ihren Körper, ergreift jeden einzelnen Zentimeter dieses kleinen Lebewesens, treibt ihr erneut die Tränen in die Augen.

"Ich hasse mich!" schreit sie ihn an, damit er es auch ja weiß. Schreit es noch einmal, lauter, schreit sich richtig ein, gewinnt Gefallen daran und schreit immer weiter und weiter, bis er es nicht mehr überhört haben kann.

"Von wegen, ich würde das schon irgendwie schaffen! Wer sagt so etwas? Von wegen!"

Sie zittert wie ein Presslufthammer, versucht, Autorität auszustrahlen, doch der Versuch scheitert kläglich.

"Ich dreh heute ohnehin den ganzen Tag schon hohl" keucht sie ihr Spiegelbild an, von dem sie glaubt, er wäre es. "Hab im Schlossgarten versucht, mir mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufzuschneiden, während du dich mit ihr amüsiert hast. Wäre so gerne mitten im Schlossgarten verblutet. Aber dieses Scheißteil war zu stumpf! Ich pack´s langsam, echt, ich glaub, es hackt!"

Schluchzt. Weint.

"Ich will dir an den Kopf schreien, was für ein Arschloch du bist, was für ein egoistisches Arschloch, aber du bist es nicht, und deswegen kann ich das nicht tun. Kann nicht verstehen, wie du mit ihr zusammen sein kannst, die noch mit einem anderen gepoppt hat, die es anfangs toll fand, mit den Gefühlen von euch beiden zu spielen. Kann es nicht verstehen, will nicht gemein sein, liebte sie, würde sie gerne noch immer lieben, wenn sie mich nicht so verdammt verletzt hätte, wenn sie mein Herz nicht in die nächste Mülltonne geschmettert hätte. Ich bete dafür, dass sie es bei dir nicht auch tut..."

Bricht zusammen. Krallt sich am Spiegel fest, um Halt zu suchen, den sie nicht findet.

"Pack´s nicht, dreh ab, bin nur noch auf Alk, die ganze Zeit. Nur noch sterben, sterben, sterben. Wenn du mir sagst, dass ich dir nichts mehr bedeute, dass ich egal bin. Dann ist Schluss, aus, Sense."

Schreit ihn an, stammelt ihn an, stottert ihn an, stöhnt ihn an, heult ihn an. Ihn, der er doch gar nicht da ist.

"Nur Kotzen und Fressen und Kotzen und Saufen und vor mich hinvegetieren und Decken anstarren und Blut lecken und nicht mehr leben. Sag es mir! Sag es mir, wie du es mir heute gezeigt hast! Dass ich dir egal bin, dass ich dir nichts mehr bedeute! Dass ich dich auch verloren habe, wie ich sie verloren habe, weil sie einfach zu egoistisch war, um mir nur einmal zu sagen: "Ja, ich steh dir bei!" Ich wäre bereit, all meine Fehler wieder gut zu machen. Ich wäre zu allem bereit. Zum letzten. Zu verlieren hab ich ja nichts mehr. Hab die beiden Menschen verloren, die ich am meisten liebte. Aneinander. Und ich bin egal,

total egal, plötzlich völlig überflüssig. Fühl mich wie der letzte Haufen Scheiße, weil ich so behandelt werde, weil ich so ignoriert werde wie der letzte Haufen Scheiße, weil sich keiner mehr Gedanken um mich macht, keiner mal ein nettes Wort sagt, einfach nichts, nichts,

nichts."

Melissa kommt sich für einen kurzen Moment blöd vor, fragt sich, was sie tut, redet weiter:

"Kann nicht leben ohne euch, will nicht leben ohne euch! Würde so gerne sagen, dass ich

dich nicht mehr sehen will! Aber wie soll ich das denn aushalten, wenn ich dich nicht sehen kann? Wie soll ich denn ohne meinen besten Freund überleben? Wie soll ich das Leben ohne meinen besten Freund überleben? Es geht doch nicht!"

Spricht und starrt das Wesen im Spiegel an und hört das Wesen sagen: "Du bist egal!"

Melissa greift wieder zum Messer.


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