21. Chucky

Chucky läuft zu gerade, als dass es vermeiden könnte, sich in dieser Welt ständig den Kopf anzustoßen. Der große, schlanke Körper ist beweglicher noch als die Worte, die aus seinem Mund schlüpfen, schlendert ebenso lässig, verweilt ebenso aufdringlich, geht aber auch ebenso schnell wieder.

Chucky lügt nie, sagt immer, was es denkt. Leute zu verletzen ist eine tragbare Sünde, sie wiegt nicht so schwer, als dass sie auf seinen breiten Schultern keinen Platz fände. Lügen würden das Gnom in den Boden stampfen.

Chucky ist frei.

Wer das Leben liebt, der liebt sich selbst, liebt das Leben in sich und außer sich und um sich herum. Leben braucht keine Mittel, keine Güter, keine Grundvoraussetzungen. Leben ist völlig bedingungslos. Alles, was man können muss, um zu leben, ist zu leben.

Essen, trinken, schlafen, das kennt Chucky nicht, das spielt in seinem Gnomenleben keine Rolle. Es erinnert sich nicht daran, solchen Tätigkeiten jemals nachgegangen zu sein.

Die kreisrunden Lichtkegel in der Dunkelheit, die immer wieder näher kommen, größer werden, Geräuschkulisse mit sich bringen und dann wieder verschwinden, verwirren die Sinne, irritieren Chucky aber nicht weiter, da das Leben vieles bereithält. Was, das ist egal, spielt keine Rolle, wird schon passen. Das Leben weiß doch, was es tut, wird schon nichts falsch machen.

Frei sein ist doch das Wichtigste, das höchste Gut aller Wesen.

Chucky ist kalt. So innen.

Die Gegend hier ist grau, trist, tot. Neben ihm winselt was.

Egal, was kommt, egal was sein wird, mit dem Tod hört das Leben nicht auf. Und solange die Liebe überlebt, kann man nichts verlieren, man hat ja sonst nichts zu verlieren.

Wenn die Liebe das Leben ist, wird das Leben zur unbewältigbaren Pflichtübung für Suizidgefährdete. Aber irgendwie ist es schön.

Chucky lächelt. Wenn nur das Winseln aufhören würde. Es macht so schwach.

"Am wichtigsten ist doch, dass wir frei sind, oder?" Chucky sagt immer, was es denkt, ist aber betrübt darüber, dass es eine Frage gedacht hat, die eigentlich keine Frage sein sollte, da diese Worte mit einer definitiven Sicherheit in seinem Kopf herumschweben müssten, warum kamen sie also anders aus dessen Öffnung?

Als Antwort nur ein Winseln, vielleicht auch ein Stöhnen.

Chucky tut immer nur, was es selbst für richtig hält, und Gnome haben ihre eigenen Gesetze, jeder einzelne andere. Nie würde das viel zu gerade agierende Wesen etwas tun, weil andere es von ihm verlangen. Chucky ist nicht dazu geschaffen, sich zu bücken, glaubt nicht einmal, dass es dazu in der Lage wäre. Gedanke absurd, abgestempelt, zu den Akten gestellt. Irgendwo abgeheftet, wo man nie wieder nachschlagen wird.

Wenn Chucky nicht lieben würde, würde es nicht leben. Doch wenn Chucky nicht lieben würde, wäre es auch nicht hier. Hier in dieser toten Gegend, in der jedes Leben so unmöglich scheint.

Das Winseln wird stärker, wird zu einem Heulen, nagt an Chuckys Nervenenden, als wäre der Hunger unerträglich.

"Am wichtigsten ist doch, dass wir frei sind", wiederholt Chucky, ohne Fragezeichen, aber seine Stimme wackelt dabei unsicher, als wäre sie sich nicht sicher, ob der Kopf ihr gerade aufgetragen hat, eine Lüge auszusprechen.


22. Jenny

Das viel zu groß gewachsene Mädchen schlingt seine Arme um die Knie. Weiß nicht, wohin sonst damit, will sich auch ganz klein machen, um sich zu wärmen. Ist so kalt hier unten. Nur wenn Autos vorbeifahren, ihnen ihre Abgase ins Gesicht blasen, wird es ein paar Sekunden wärmer, aber diese Wärme reicht nicht aus, um ihre halberfrorenen Finger beweglicher zu machen. Der Wind schlüpft immer wieder durch die Löcher in ihren Jeans.

Jenny erträgt es nicht mehr lange, dass Hajo solche Geräusche von sich gibt, sie erträgt sein Leiden nicht, erträgt aber noch weniger, dass sie nichts dagegen tun kann. Die Ohren möchte sie sich zuhalten, doch sie hat nicht genug Hände.

"Jenny, hilf mir!" Das ist nicht mehr seine Stimme. Diese Stimme klingt viel zu verzweifelt, als dass sie von einem Jungen mit solch einer Power stammen könnte. Er hat doch Power. Man braucht doch Power, um solch ein Leben leben zu können. Um frei zu sein. Sie sind doch frei.

"Liebst du mich?" Auch wenn sie sich bemüht, ganz ruhig zu sprechen, muss er das Zittern in ihrer Stimme hören. Alles in ihr zittert.

"Mensch Jenny, hilf mir! Ich krepiere!"

Sie wiederholt ihre Frage, bekommt ein langgezogenes Winseln als Antwort. Endlich dreht sie ihren Kopf, wirft ihm einen Blick zu. Dann noch einen. Kaum zu glauben, dass er fast zwei Meter groß ist. Kaum zu glauben, dass er noch vor wenigen Stunden große Töne spucken konnte und es schaffte, vor den Bullen zu türmen.

Jenny liebt Hajo.

"Verdammt Hajo, wir schaffen das. Irgendwie werden wir das schon schaffen. Wir sind frei, weißt du? Niemand kann uns was anhaben. Hörst du? Niemand!" Jenny lügt niemals.

Er zittert. Über seinen zusammengekrümmten Körper gleitet ein Erdbeben nach dem anderen. Die abgetragenen Klamotten sind nass vom Schweiß. Der Geruch, dieser verdammte Geruch. Jenny will sich die Nase zuhalten, doch auch hierfür reicht die Anzahl ihrer Hände nicht. Außerdem will sie ihm nicht zeigen, dass sie sich vor ihm ekelt. Sie liebt ihn. Aber es riecht so schrecklich, wenn das Gift aus dem Körper tritt.

Seine zitternden Hände klammern sich in tödlicher Verzweiflung an ihrem Bein fest. Sie fühlt sich gefangen von seinem Griff. "Jenny, ich kann nicht mehr. Verdammt, ich kann einfach nicht mehr."

"Ich bin bei dir, Hajo. Wir schaffen das." Jenny ist ganz weit weg, sitzt eigentlich gar nicht in dieser verdammten Unterführung, bibbernd vor Kälte und Angst und Unsicherheit.

"Tu was, Jenny!" Sie weiß nicht, ob Tränen über sein Gesicht laufen oder ob es nur der Schweiß ist. Sie traut sich nicht, die zahlreichen Perlen von seinen Wangen zu wischen. Das Wasser muss voller Gift sein.

Eigentlich wollte sie nur frei sein.

"Hajo, ich liebe dich!" Lieber würde sie sterben, als dass sie je eine Lüge in den Mund nähme. Er erwidert nichts, schreit nur.

"Mensch Hajo, wir tun nur, wozu wir Bock haben. Die ganzen Zombies können uns am Arsch lecken, das bleibt auch so. Wir haben alle Möglichkeiten, können hingehen, wohin wir wollen. Die ganze Welt steht uns offen!" Ihre Augen bekommen einen schwachen Glanz. Ihre halb erstarrten Fingerspitzen streicheln zögernd über seine schweißnassen Hände.

Sein Stöhnen wird schlimmer. Wie kann ein Körper so zittern. So ein starker Körper, der es mit jedem aufnimmt, der jeden Feind in die Flucht schlagen kann.

"Jenny, ich hab Angst." Auch Hajo lügt nicht. Er ist wie Jenny, sie weiß das. Auch er tut nur, worauf er Lust hat, lässt sich nichts sagen. Ihm kann niemand seine Freiheit nehmen.

Er zieht seine linke Hand weg, führt sie blitzschnell zum Mund, beißt hinein, vergräbt seine Zähne im Fleisch, unterdrückt einen Schrei. Jenny weiß nicht, was sie tun soll, kann ihm nicht helfen, kann ihn nur festhalten, hält ihn fest, liebt ihn. Glaubt sie.

"Ich will nie wieder ohne dich sein", flüstert sie, Tränen graben ihr eisige Bahnen ins Gesicht. Sie sagt die Wahrheit. Wen hat sie denn noch außer Hajo? Niemanden. Sie ist von niemandem abhängig, das ist Freiheit. "Zusammen können wir alles schaffen. Hey, gegen unsere Liebe kommt nichts und niemand an, ja?" Schon wieder eine Frage. Fragen sind scheiße, Fragen machen Angst.

Er klammert sich fest an sie, erdrückt sie fast, raubt ihr die Luft zum Atmen. Jenny ist froh, dass sie Hajo hat, dass sie nicht alleine ist. Frei sein ist manchmal ganz schön schwer.


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