17. Chucky

Gnome mögen Züge wie alle anderen Wesen. Chucky liebt Züge sogar. Manchmal. Jetzt im Moment zumindest. Die regenrinnenden Scheiben sind so schön. Wassertropfen veranstalten Wettrennen und Versteckspiele, vereinen sich, trennen sich, streiten sich, prügeln sich, vertragen sich wieder. Manchmal sind Regentropfen wie Menschen, nur dass Menschen nicht so schön auf Glasscheiben tanzen können.

Wälder und Wolken rauschen vorbei, rasen, als wollten sie vor dem Zug am Ziel ankommen, indem sie in die entgegengesetzte Richtung rennen und sich mit Chucky treffen, wenn es um die halbe Welt gefahren ist.

Chuckys Gedanken überholen seinen Körper, befinden sich schon jetzt ein ganzes Stück weiter auf dem Weg in die undefinierbare Ferne, die kein Punkt auf dieser Landkarte ist, vielmehr eine große Fläche in Chuckys Seele. Die Ferne ist überall. Nur nicht dort, wo sich Chuckys schlaksiger Körper befindet.

Die Schienen und Räder, die sich treffen, sprechen zu Ohren, die nur eines hören wollen. Chuckys Augen finden den Blick nicht, den Blick durch den Regen, sie sehen unendlich weit, sehen ein Wesen von unglaublicher Schönheit. Irgendwo innen, außen scheint es dieses Wesen nicht zu geben.

Chucky ist verliebt, diesmal wirklich. Doch es weiß nicht, wem es dieses unglaubliche Gefühl schenken soll. Das Wesen in Chuckys Träumen ist ein Gedanke, eine Illussion, eine Utopie. Vielleicht ist das gut so. Chucky liebt dieses Wesen. Und wie schwer ist es doch, etwas zu lieben, das keine Utopie ist.

Regentränen.

Chucky befindet sich in sich und außer sich, seine Sinnesorgane kollidieren mit seinen Sinnesebenen. Irgendwo dazwischen schwebt sie, seine Liebe.

Es vergießt Tränen um sie, mit ihr, für sie, Tränen aus unblickenden, tiefblickenden Augen. Das kleine Liebende weiß nicht, was Liebe bedeutet, weiß aber, dass sie wächst. Liebe nach Freiheit, nach Abenteuer, nach Leben.

Angsteinflößend weltvermessend, tränenreich vergessend, unglaublich fantastisch, zu fallen, ohne auf Grund zu warten, zu fallen einfach so, grundlos. Fester Boden unter Chuckys Füßen schwankt haltsuchend, während das verliebte Wesen Halt findet, sich in Worten ergießt, die es selbst nicht versteht, an denen es sich aber festklammern kann, da ihre Bedeutung die Kraft hat, alles am Leben zu halten.

Chucky verliert, indem es die größten Siege feiert, stirbt in den umfassenden Armen der Liebe, weil es unsterblich ist. Verstehen kann es sich selbst am allerwenigsten, doch es wartet auf das Wesen, dass es erkennt.

Emotionen prallen ab und dringen ein, während die Tropfen von innen wie von außen das Fenster küssen. Auf der einen Seite saures Wasser, auf der anderen salziges. Die Tropfen können sich nicht erreichen, das Glas zwischen ihnen ist erbarmungslos. Sie weinen. Sind einsam. Einsam auf einer Glasscheibe voller Tropfen.

Chucky ist endlich frei, in der Wahrheit gefangen. Gedankenchaos ohne Genie.

Die große Welt wartet auf das kleine Wesen, will ihm jeden Flecken zeigen, aus dem sie zusammengesetzt ist. Die Liebe wartet, aber wo findet man die?

Chucky liebt Züge. Doch die Züge sind nicht die Freiheit. Sie sind eng und schnell und gefährlich. Die Züge lieben Chucky nicht. Und darum steigt es aus.


18. Fred

In einem schmetternden Rauschen verlässt der Zug den Bahnhof. Die Stimme aus dem Lautsprecher sagt irgend etwas, klingt unerträglich schrill. Er hört nicht hin.

Nun ist er hier. Und jetzt?

Der Boden wartet förmlich auf sein Sitzfleisch, die abgewetzte Jeans reibt sich an hässlichem Beton. Die ersten Leute schauen. Sind sie hier keine Jugendlichen gewohnt, die lieber auf dem Boden sitzen als auf Bänken? Bänke sind ätzend - so förmlich. Da sitzt doch jeder drauf. Außerdem sind sie immer besetzt. Nur im Moment nicht. Der Zug ist ja gerade abgefahren.

Die Flamme seines Feuerzeugs leuchtet auf wie von selbst. Angestrengt betrachtet er die Glut am Ende seiner Zigarette, seines Sargnagels, wie er so gerne sagt.

Was hat er nun davon? Nun ist er hier. Damit waren Hoffnungen verbunden. Welche Hoffnungen? Er hat es wieder vergessen.

Da sitzt er, wie nicht bestellt und darum auch nicht abgeholt. Was er nun tun soll, weiß er nicht.

Hier sollte alles anders werden. Anders als zu Hause. Aber wie kann es anders sein, wenn er sich noch immer auf der Erde befindet? Zum Teufel mit der Schwerkraft. Herunterhüpfen wäre am Besten. Er sollte eine Partei zur Abschaffung der Schwerkraft gründen. Wie viele Parteien hatte er schon geplant? Als Jugendlicher mit seinem Aussehen - keine Chance. Ihm wird niemand zuhören, auch hier nicht.

Aus seinem ehemaligen Eastpak und Dank immer mitgeführtem Edding nun Asipak kramt er einen Apfel, steckt ihn wieder zurück und fährt sich nervös durch die zerwuschelten Haare.

Leicht fällt es ihm nicht, sich aufzurichten, doch er steht, bevor er es gemerkt hat.

Kaum setzt er einen Fuß vor den anderen, rennt er gegen eine Frau mittleren Alters - mittleren Alters in seinen Augen.

"Pass doch auf!" kreischt sie ärgerlich. "Die Jugend von heute ist wirklich unverschämt!" Auf seine blauen Haare starrt sie, dann auf seine Jeans und die freiliegenden Knie. Was sie denkt, kann er sich denken. Nicht nur unverschämt, auch noch rücksichtslos, ungewaschen und verlottert. Damit sie nicht "frech" und "vorlaut" denken kann, hält er den Mund, zieht an seinem Sargnagel. Wahrscheinlich denkt sie es trotzdem.

Typischer Bahnhof. Obwohl er nie hier war, kennt er sich schon aus.

Keine Zukunft. Das haben die Eltern auch immer gesagt. Die Eltern werden sich jetzt Sorgen machen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht sind sie auch froh. Er weiß, dass er sich etwas vormacht.

Worauf er wartet, weiß er nicht. Vielleicht darauf, dass jemand kommt, dass sich ein wundervoller Mensch vor ihn stellt und sagt: "Hallo Fred, hier bin ich. Lass uns zusammen die Welt erobern. Lass uns Bonnie und Clyde spielen." Irgendwo weit weg gehen, sich eine gemütliche Blockhütte mitten in der Natur bauen, eine Anarchokommune aufmachen, Frieden leben, ihn nicht nur predigen. Fern ab von der Gesellschaft und allem, was man mit der Gesellschaft in Verbindung bringen kann.

Er schnippst die Kippe von sich. Sie landet irgendwo zwischen den Gleisen, versteckt sich zwischen Steinen, findet Artgenossen.

Es ist egal. Egal, ob er hier stehen bleibt oder fortläuft, ob er sich in den nächsten Zug setzt oder sich mit erhobenem Daumen an die Straße stellt. Es ist egal, wo er ist. Sie kann überall und nirgends nach ihm suchen. Was aber, wenn sie darauf wartet, von ihm gefunden zu werden?

Tief holt er Luft, tiefer als sonst, bemüht sich dabei, seine Lungen vollständig mit Sauerstoff zu füllen. Und dann läuft er los, seine langen Beine nehmen sich mit einem Schritt so viel Platz, wie ihnen möglich ist, seine Augen sind artig geradeaus gerichtet, um unnötige und zeitaufwendige Koalitionen zu vermeiden.

Und plötzlich fühlt er sich wieder. Er spürt, dass er Fred ist, dass er in sich existiert, dass die blauen Haare zu ihm gehören und die zerrissenen Jeans zu ihm passen. Nichts und niemand kann ihn aufhalten. Was passiert, ist egal. Nicht von Bedeutung, was die Zukunft bringt oder ob sie überhaupt nichts für ihn bereit hält. Er lebt. Und er hat vor, das weiterhin zu tun.

Die Stadt ist eine Stadt wie jede andere. Er passt genauso wenig und genauso viel in sie hinein wie in jede andere Stadt. Städte freuen sich über Punks, obgleich Stadtverwalter etwas anderes behaupten. Auch wenn sie eine Bedrohung für saubere und sichere Innenstädte darstellen, schlägt das Stadtherz höher, wenn es das Leben dieser bunten Wesen in sich pulsieren spürt.

Smog liegt in der Luft und Hektik eilt durch die Straßen. Der Kontrast lässt ihn aufleben, lässt ihn seine Freiheit noch intensiver spüren. Ein Lächeln drängt sich auf seine Lippen, ohne dass er es gerufen hätte. Das ist es, was den Menschen fehlt. Die Freiheit, die einen lächeln macht.

Seine Schritte verlangsamen sich. Die globigen Springerstiefel saugen sich an der zu erkundenden Erde fest, jeden Millimeter des noch unbekannten Blickfeldes gilt es ausführlich zu erforschen.

Da ist so vieles, was auf ihn wartet. Egal, ob er die Nacht im Freien verbringen muss. Egal, ob er Tage lang nichts zu essen bekommt. Was würde das schon machen. Das ist doch alles Leben. Leben pur. Schönes Leben.

Mit einem Mal steht sie vor ihm, ihre blauen Augen funkeln ihn an, der Ring in ihrer Nase blitzt vielversprechend. Die Haare so blau wie seine. "Haste vielleicht noch´n bisschen Kleingeld?"

Fragend blickt er sie an, zuckt mit den Schultern. "Seh ich vielleicht so aus?"

"Na dann komm mal mit."

Sie gehen.


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