07. Chucky

Jener Gnom, den wir Chucky nennen, feiert seinen Geburtstag. Diesen Trauertag wählt Chucky jedes Jahr aufs Neue und zelebriert ihn, wenn es der Meinung ist, die Zeit sei reif für ein neues Leben.

Schön gemacht hat sich Chucky. Das schwarze Kleid aus weichem Samt bildet einen sanften Kontrast zu seiner weißen Haut, als es in zart umfassenden Federn alle erdenklichen Extremitäten von sich streckt.

Eine Schwere erfüllt seinen Geist, macht ihn langsamer denken. Die Gravitationskraft scheint seinen Kopf zu erfassen, verwirrt die Gehirnwindungen und legt sie immer wieder für kurze Zeit lahm.

In seinem dunklen Kerker klammert es sich an den Federn fest, auf denen es liegt, die es umhüllen und einhüllen. Es ist schwer, in etwas Halt zu finden, das leicht ist wie Federn, obschon wohl nichts so federleicht ist wie Federn selbst.

Jammern ist leicht. Jammern kann jeder. Auch die letzte kranke Fliege. Chucky beißt sich fest, um das Jammern zu lassen, das sich Wege aus seinem Mund bahnt, den Chucky gerne verschließen würde, würde sein Gehirn noch auf ihn hören. Sämtliche Befehle verirren sich und gelangen zu unbrauchbaren Synapsen, was zur Folge hat, dass Chucky unaufhörlich mit dem linken kleinen Fußzeh wackelt und sich ein rotes Haar nach dem anderen ausreißt - aber immer nur die roten - und das, ohne es zu wollen.

Wäre das Leben doch einfach, könnte man das Denken abstellen.

Chucky denkt zu viel, viel zu viel, denn Chucky ist ein Gedanke. Chucky besteht aus einer großen Anzahl Gedanken, existiert nur durch sie und in ihnen, ist das Denken in Person, der Denkgnom.

Denken abstellen bedeutet Chucky abstellen.

Chucky ist das recht. Im Moment hat es keine besonders große Lust mehr auf seine Existenz. Will kein Gedanke mehr sein, weil das viel zu anstrengend ist. Außerdem hat Chucky Angst, bald arbeitslos zu werden. Die Menschen denken nicht mehr so viel, sie lassen für sich denken. Die Menschen werden zu Nachdenkern, die sich an die wenigen Vordenker klammern, wobei Chucky immer wieder feststellen muss, dass die wenigen Vordenker die vielen Nachdenker immer nur zu ihren eigenen Zwecken nutzen und darum keine sonderlich sinnbringenden Gedanken vordenken. Chucky ist ein guter Gedanke und gute Gedanken sterben aus.

Das kleine Gnom im kleinen Schwarzen wäre lieber ein roter Klecks im Weltall oder ein fliegender Schraubenschlüssel, da Schraubenschlüssel gemeinhin nicht fliegen können und es somit eine Attraktion wäre, die die Menschheit im besten Falle so verwirren könnte, dass alle bestehenden Gesetze von selbst die Flucht ergriffen.

Und der Kopf wird schwerer, die Federn ertasten sich wie Blei, während sich die Krallen Wege in Haut bahnen, wo sie verharren, weil sie zu müde werden, um sich weiter fortzubewegen.

Chucky beginnt zu vergessen, was es ist. Es sucht nach seinem Namen und seiner Existenzberechtigung. Was es findet sind kranke Mäuse, die an grünen Tomaten knabbern. Doch die Gedanken gehen nicht, sie gehen nicht, sie klammern sich fest in einer panischen Furcht, für immer ausgelöscht zu werden. Die Todesangst lässt die Gedanken wagemutig werden, flößt ihnen Lichtgeschwindigkeitszüge ein und Häuser, von deren Dach man die Sterne befühlen könnte.

Chucky ist eine Fahne im Wind - aber da, da sind sie noch immer. Sie lassen ihn nicht los, sind nicht bereit, es zu verlassen, als ob sie ein Anrecht auf Chucky hätten, als wären sie lebenslange Mieter in seinem Geist. Die Gedanken nehmen ihm alles. Jeden Glauben an sich selbst, an seine Existenz. Und doch gehen sie nicht, bleiben bei ihm - und lassen es so weiterexistieren.

Was ist eine Existenz, wenn man sich seiner Existenz nicht mehr bewusst ist?

Nicht mehr denken, nicht mehr denken...


08. Jo

Jos Augenlider sind so schwer. So schwer, die Augen aufzuhalten, so schwer, noch etwas wahrzunehmen in der alles Licht aufsaugenden Dunkelheit. Durch die kleinen Schlitze, die sie mit aller Kraft noch retten kann, betrachtet sie die kugelige Baileys-Flasche in ihrer tauben Hand. Noch ein Schluck.

Diese Übelkeit, diese unvorstellbare Übelkeit. Der Drang, alles wieder loszuwerden, überfällt sie. Aber das kann sie doch nicht machen. Kann doch nicht wieder hergeben, was sie sich so mühselig einführte. Will doch nur schlafen, schlafen, endlich schlafen.

Wenn diese elenden Kopfschmerzen nicht wären. Es droht, ihren Kopf zu zerreißen. Und das Herz schlägt so einnehmend. Die Schläge drohen, ihren ganzen Körper von innen heraus zu zerfetzen. Das gleichmäßige Schlagen einer großen Buschtrommel, das sämtliche Innereien erzittern lässt.

Sie vergisst ihren Körper, spürt ihn scheinbar gar nicht mehr, und doch wird sie erdrückt von der Schwere ihres Kopfes, wird erschüttert von den Schlägen ihres Herzens. Eine aufdringliche Feuchtigkeit ergießt sich über ihre Haut. Diese Hitze und kurz darauf diese Kälte. Kann sich nicht entscheiden, ihr Körper. Sie selbst kann sich auch nicht entscheiden.

Will doch gar nicht sterben. Und wieder eine Tablette und wieder ein Schluck Baileys.

Will doch nur schlafen, einfach schlafen, schlafen, schlafen. Die Augen sind so schwer. Der Kopf ist so voll, der Körper so widersprüchlich in seiner Empfindung.

"Wer schläft, denkt nicht." Diese Worte beißen sich in ihr fest, in jedem Nerv, der noch in der Lage ist, seine Funktion auszuleben. "Nicht mehr denken!", denkt sie. Denkt es und denkt es und hört nicht auf damit.

Noch eine Tablette, am besten gleich zwei, es macht keinen Unterschied mehr, einfach runter damit, damit das Schlafen leichter wird. Der Zwang des Schlafens komme über mich!

Wenn der Geist nur ebenso müde wäre wie der Körper. Wenn die einzelnen Gedanken auf die gleiche Weise einschliefen wie jeder Zentimeter ihrer körperlichen Hülle.

Wenn sie doch nur alles vergessen könnte: Ihn, sie, sich selbst, alles. Weg. Einfach ausknipsen wie einen Lichtschalter. Nur mal eben für ein paar Stunden. Nur kurz weg sein. Den Lichtschalter später wieder drücken, ihr Leben wieder anknipsen.

Das Licht der Kerze erinnert sie an Grablichter. Tote schlafen lange.

Sie schmeckt den Baileys nicht mehr. Kein sahniges Gefühl, das sich auf ihren Geschmacksnerven breit macht. Da sind keine Geschmacksnerven mehr, die sind schon eingeschlafen. Haben im Mund das Licht ausgemacht und sich ins Bett gelegt.

Lallend sagt sie es zu sich selbst: "Ich kann nicht mehr!", braucht halbe Ewigkeiten für diese Worte. Alles läuft viel langsamer als sonst, als würde die Welt auf die Bremse drücken. So etwas Großes wie die Welt muss eine lange Bremsspur haben. Aber die Welt soll sich doch gar nicht schlafen legen. Nur sie will schlafen.

Endlich schlafen. Traumlose Leere dunkler Bilder.

Die Schläge in ihr werden lauter, ihr Körper kommt in Bewegung. Die schwere Regungslosigkeit weicht einem unkontrollierbaren Zittern, das auch ihren Geist erfasst, das Unordnung in die langsamen Gedanken bringt, so dass die Sätze keinen Sinn mehr ergeben, weil die Wörter Kopf stehen.

Drogentrip.

Die Tablette liegt schwer in ihrem Mund, scheint so groß, als würde sie alles zustopfen, den Eingang versperren, passt nicht durch den Durchgang. So anstrengend, Muskeln in Gang zu setzen. Es dauert so lange, bis der Körper Bescheid weiß, was das Gehirn gerne hätte, da sämtliche Reaktionen des Körpers ihr Tempo verlangsamen. Ein paar Hormone fangen an zu gähnen und schlafen ein.

Die Gedanken schlagen Purzelbäume. Sie stehen unter Drogen, sind jetzt viel zu gut drauf, um schlafen zu gehen, wollen Jo jetzt keinen Gefallen tun, meinen, ihr auf der Nase herumtanzen zu müssen. Gedanken können hinterhältig, fies und gemein sein. Gedanken können töten und das Töten verhindern.

Jo will nicht sterben. Nur schlafen. Aber sie kann es nicht. Und sie zittert. Die Tabletten helfen nicht. Eine weiße Schachtel trifft die Wand, gibt einen dumpfen Ton von sich, der Jos Ohren erst einige Zeit nach dem Aufschlag erreicht.

Das Mädchen richtet sich im Bett auf. Schlafen geht nicht. Und sie weint.


Zurück zur Übersicht