15. Chucky

Einen Purzelbaum schlägt Chucky, spürt das feuchte Gras, weiß, dass die blaue Hose grüngelbe Flecken bekommt.

Eine Krähe. Es hört sich an, als würde jemand ganz schnell mit einer Gartenschere hantieren. Auch wenn man die Krähe nicht sieht, weiß man, dass sie ein hässlicher großer Vogel ist, schön im Grün der Wiese.

Kinder schreien, denn der Himmel ist blau. Die Sonne scheint heiß auf Chuckys Nacken, droht, den Gnom zu verbrennen. Die Augen hält es geschlossen, um die Sonne spüren zu können. Und den Himmel. Es weiß, dass er ganz nah ist.

Leben, was ist Leben?

Die Hände wirken hilflos und haltsuchend, die kleinen Finger vergraben sich ineinander, suchen Zärtlichkeit bei sich selbst, die Ringe scheinen globig und hinderlich. Chucky zieht sie aus und steckt sie in die Hosentasche wobei es den ersten grüngelben Flecken entdeckt. Schön.

Das Sonnenlicht blendet das strahlende Wesen, doch die Beine in der Luft schieben sich vor die gelbe Scheibe, bedecken seine Augen mit Schatten, wedeln freudig durch die Gegend. Die Hose rutscht die Stiefel hinab, zeigt ein Stück der weißen Beine. Weiße Beine vor blauem Himmel. Ein schönes Bild.

Jemand lacht. Lautlos.

Chucky öffnet die Beine, sieht die Sonne und schließt die Beine wieder. Seine Beine sind die Tür, die Sonne ein ungebetener Gast. Ob es ihn hereinlassen möchte, weiß es noch nicht.

Das Lachen kommt näher. Chucky hört nur die Schritte im noch feuchten Gras.

Auch als das Lachen sich neben den Gnom setzt, wendet es seinen Blick nicht von den Beinen. Doch auch Chucky lacht - lautlos.

Schweigen. Nur ein stilles Lachen, das leise Geschichten erzählt. Mit Schwung lässt Chuckys Wille seine Beine auf den Boden krachen, wundert sich über die Sonne, die noch immer nicht gewichen ist.

Kleine, hilflosen Finger legen sich auf blaue Augen, nun schützend. Sie möchten nichts sehen und lugen durch den Spalt zwischen Zeige- und Mittelfinger hinaus.

Den Himmel sehen sie. Er scheint immer blauer zu werden.

Ein Rascheln im Gras neben Chucky. Das Lachen bewegt sich. Langsam und behutsam.

"Was machst du hier?" Das Lachen beginnt, laut zu reden. Die Geschichten verstummen, doch das kümmert Chucky nicht, denn das Erzählte schien ihm alles bekannt.

"Leben!" Mit Schwung breitet die Freude in Chucky seine Arme aus und schmettert die linke Hand, die nun gar nicht mehr hilflos scheint, auf einen unbekannten Brustkasten.

"Das fühle ich!"

Chucky freut sich, dass das Lachen von "fühlen" spricht. Nicht von "hören" oder "sehen", diesen heuchlerischen, lügenden Sinnen.

Die Hand bleibt auf dem Brustkasten liegen und wird nicht weggeschoben.

"Ich würde auch gerne leben!" sagt das Lachen und klingt plötzlich ganz leise, als hätte es Angst, gehört zu werden.

"Mach einen Purzelbaum!" befiehlt Chucky.

Doch das Lachen bleibt liegen.

"Ich kann nicht!"

Als das Gnom die Augen öffnet, blendet die Sonne noch immer. Es blinzelt. Nach links schauen will es nicht. Es mag die Stimme des Lachens. Und seine Hand mag seinen Brustkasten. Es will sich nichts verderben. Das Sehen soll nicht das Fühlen verdrängen.

Chucky springt auf, selbst überrascht davon, wie flink es ist. Erst als es auf den Füßen steht, wird ihm bewusst, dass es sich bewegt hat. Ein Schrei! Es weiß, dass sich kleine Menschenwesen umdrehen. Egal. Noch ein Schrei. Dann lässt es sich wieder ins Gras fallen.

"Hast du Angst?" fragt das Lachen.

"Nein!" Der Himmel wird noch immer blauer.

"Bist du dir sicher?"

"Ja!" Chucky ist sich nicht sicher.

"Schau mich an!" Das Lachen ist kein Lachen mehr.

"Nein!"

"Du hast Angst!"

Chucky schweigt, legt die Hand wieder auf seine Augen. Die Finger sind wieder hilflos, suchen nach Halt, können die Augen nun nicht mehr beschützen. Die Ringe fehlen ihm.

Mit Schwung dreht Gnom Chucky sich um, sieht dem Schweigen ins Gesicht.

"Was willst du?" fragt es die traurigen, blauen Augen.

"Leben!" sagen die Augen, und obwohl sie so traurig sind, scheinen sie unheimlich stark zu sein.

"Und ich fühle, dass du mir das beibringen kannst!"

Chucky mag die Augen. Es ist nicht enttäuscht. Seine Sinne betrügen sie dieses eine mal nicht, da ist es sich sicher.

"Zeigst duīs mir?" Sie haben das Lachen verlernt, diese Augen, ganz plötzlich.

"Ich kann nicht!" Chucky kann seinen Blick nicht abwenden von den Augen. Sie sprechen so viel. Sie sprechen unaufhörlich.

Noch ein Stückchen trauriger werden die Augen. Auf einmal verstummen sie. Und sie scheinen zu sehen.

"Ja, du kannst es nicht!" Das andere Wesen dreht sich zur Seite. Es sieht die Augen nun nicht mehr.

"Ich weiß doch selbst nicht, was das Leben ist." Seine Augen werden wieder von den Lidern bedeckt und sehen nicht, wie die Sonne hinter einer Wolke verschwindet.


16. Carmen

Der Junge, der neben Carmen im Gras liegt, ist hübsch. Sie mag blaue Augen und schwarze Haare, diese Kombination gibt es nicht oft. Warum nur sieht er so traurig aus? Sie traut sich nicht zu fragen, ist viel zu feige, um mit Fremden zu reden. Auch er sagt nichts. Psychologische Berechnung oder Schüchternheit?

"Wer bist du?" Psychologische Berechnung, sonst würde er nicht solche Fragen stellen. Schwierige Fragen. Er will nicht hören, dass sie Carmen ist. Sie ist nicht Carmen, sie heißt nur so. Wie viele.

"Wenn ich das so genau wüsste."

"Kannst du versuchen, es in Worte zu fassen?" Er sieht sie nicht an, blickt in den Himmel, fährt sich mit einer Hand durch die Haare. Carmen wüsste gerne, wie er heißt, um seinen Namen aussprechen zu können, doch sie traut sich nicht, solch oberflächliche Fragen zu stellen.

"Ich bin ein Mensch, leider. Ich mag Menschen nicht. Vielleicht bin ich ein bisschen komisch. Undefinierbar. Am besten kann ich mich wohl darüber definieren, dass ich mich überhaupt nicht definieren kann. Ich bin das pure Chaos, aber das wäre schon wieder eine Definition." Carmen schließt die Augen, weiß schon nicht mehr, was sie eben gesagt hat, vergaß es schon, während sie sprach, dachte ohnehin nicht nach über die Worte, sie stolperten einfach so aus ihrem Mund.

Fast spürt sie, dass er lächelt.

Der hübsche Junge dreht sich auf die Seite, bettet seinen Kopf in die rechte Hand, betrachtet sie, ohne dass sein Blick sie in ihrer Privatsphäre belästigt.

"Undefinierbar ist interessant." Seine Augen lächeln mehr als sein Mund, und trotzdem sind sie traurig.

"Ich wäre gerne interessant, aber meistens habe ich das Gefühl, viel zu normal zu sein." Carmen traut sich noch immer nicht, ihn anzusehen, möchte sich die Anonymität bewahren, die sie braucht, um von sich zu erzählen. Bis sie versteht, dass sie anonym ist, da undefinierbar, vergehen ein paar lange Sekunden.

"Normale Mädchen sitzen mit ihren Freundinnen zu Hause und reden über Handys und Make-up. Nur interessante Mädchen liegen mitten am Tag und nüchtern auf dem Spielplatz im Gras."

"Woher willst du wissen, dass ich nüchtern bin? Das Leben macht betrunken!" Sie wagt wieder einen Blick, der auf Anhieb seine Augen trifft und sich gut mit ihnen versteht.

"Ja, es verwirrt einen ein bisschen", lächelt er. Dann richtet er sich auf. Erst jetzt kann ihr auffallen, wie groß er ist. "Bist du öfter hier?" Die Frage klingt zu gewöhnlich, um aus seinem Mund zu kommen, und doch tut sie es.

"Ich wohne gerade die Straße runter. Vorbei lauf ich hier ständig. Zum Rumliegen hab ich nicht immer die Zeit." So schnell kann man aus den Wolken fallen, so schnell hat einen die Welt wieder.

"Die Welt hat uns wieder", sagt er. "Es ist schon komisch."

"Man wird schnell wieder zum Menschen." Sie verstehen sich, ohne sich zu kennen, das ist schön. "Die Realitätsebenen verwischen so oft."

Nein, sie möchte seinen Namen nicht kennen, sie möchte ihn nicht hören, möchte ihn nicht aus ihrem Mund hören. Er soll ein Engel bleiben.

"Ich bin Jonas und du?" Seine Augen können schnippisch gucken.

"Jonas", flüstert sie, blickt ihn herausfordernd an: "Carmen."

"Du hast īnen festen Schlag drauf, Carmen", lacht er und nimmt ihre Hand. "Deine Finger sind so klein, das ist toll." Sie versteht ihn nicht mehr. Versteht nicht, was er ihr sagen will.

"Du bist ein hübsches Mädchen, Carmen." Es ist schön, wie er ihren Namen ausspricht, doch sie will das nicht hören, braucht solche Sätze nicht, fühlt sich hintergangen. Der Engel ist abgestürzt.

Er scheint ihren verwirrten Blick zu bemerken, das Lächeln schwindet aus seinen Augen, weicht wieder dieser unendlichen Trauer.

"Weißt du, Carmen", flüstert er. "Du bist hier, um zu leben. Ich passe nur auf meine kleine Schwester auf."


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