11.Chucky

Die Sterne spielen am Himmel Verstecken, als Chucky zu einem Wesen der Nacht wird. Der Nebel, der die Welt wie in Watte taucht, der jedem Menschen eine imaginäre viel zu starke Brille auf die Nase setzt und der Realität jegliche Überzeugungskraft raubt, umhüllt auch Geist und Gedanken, bettet sie ein in sein kühles, wohliges Weiß, das sich gut verträgt mit schwarzen Gefühlen.

Die Fledermäuse singen Lieder aus fernen Tagen, erzählen von Vampiren, die auf die Jagd gingen, von Jungfrauen, die ihr Blut gaben, um einmal die Erfüllung pur zu erleben.

Chucky wachsen spitze Eckzähne. Eine zweite Haut umhüllt seinen Körper und seine Füße berühren den Boden nicht, schweben wenige Zentimeter darüber, gleiten elegant durch die neblige Nacht, verleihen durch ihren leichten Gang die Würde, die ein Vampir nötig hat, um sich unter seinesgleichen wohl zu fühlen.

Der Wind streichelt sanft über die weiße Haut, freut sich am funkelnden Blitzen der Augen, verweilt gerne ein bisschen, bevor er weiterzieht. Vampire umweht man nicht alle Tage, das muss man auskosten.

Die Menschen scheinen diese Ansicht nicht zu teilen, flüchten vor ihm, haben Angst. Wer nicht weiß, was der Biss bedeutet, der wünscht ihn sich nicht. Entsetzte Blicke, Angst in den Augen, Hand am Hals.

Chucky jedoch ist ein guter Vampir und außerdem nur für diese Nacht. Will doch niemandem etwas Böses, will doch nur über dem Boden schweben, die Schwerkraft überlisten, fliegen können, durch die Menschen hindurchsehen, spitze Zähne spüren, untot sein.

Das Leben pulsiert anders in seinen Adern als gewöhnlich. Förmlich spürt es den Energiestrom, der durch es hindurchfließt, seine aufrechte Haltung ermöglicht, seinen selbstbewussten und strengen Blick lenkt. Dieser Blick gewinnt in sekundenschnelle, sobald er einem anderen Blick begegnet, verscheucht jeden Eindringling. Eigentlich ist es schade, keine Augen zu haben, in die man hineinsehen kann, doch Menschenaugen sind nicht dazu bestimmt, die Blicke eines Vampirs zu kreuzen.

Vampir Chucky genießt die alles verschluckende Stille, kann die Dunkelheit als Materie spüren, fühlt den Nebel an seiner Haut kratzen, hört von fern das Wispern der Fledermäuse, die irgendwo am Himmel um die Wette fliegen, während sie sentimental vampirische Gedanken spinnen.

Das Gras, das wenige Zentimeter unter seinen Füßen hinweggleitet, scheint genug vom Grün gehabt zu haben, ist schwarz geworden wie alles, hat seine Farbe abgelegt, um der Anwesenheit des Vampirs gerecht zu werden. Eine einzige Welt aus Schwarztönen. Hellschwarz und Dunkelschwarz, Differenzen werden sichtbar, die Farbenleere fühlt sich missachtet und weicht höheren Kräften.

Der Wind bewegt sich Richtung Crescendo, verstärkt sein Tösen, lässt schwarzen Samt die Nacht umwehen, umhüllt alles Leben mit seinem kalten, erstarrten Feuer. Fliegen leicht gemacht.

Chucky breitet seine Arme aus, fühlt sich wohl im dunklen Brausen, fühlt sich aufgehoben, umarmt und geliebt von dem, was mensch Nacht nennt, was jedoch viel mehr ist als das bloße Gegenteil des Tages. Der kleine Vampir hat das Gefühl, nach Hause zu kommen, endlich das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Und er lässt sich tragen von den Flügeln der Nacht.


12. Andi

Erneut bedauert Andi, keine langen Haare zu haben. In diesem Wind würden sie ihm so schön ins Gesicht wehen, seine Nase umspielen. Er müsste sie sich regelmäßig mit einer lässigen Handbewegung aus den Augen wischen, das würde toll aussehen.

Er sieht auch mit kurzen Haaren toll aus, heute, das weiß er. Endlich gefällt er sich. Fast wünscht er sich, die Straßen würden aus Spiegeln bestehen, er könne sich permanent selbst in die Augen blicken. Endlich versteht er, wie sich Menschen fühlen, die eitel sind. Unangenehm findet er es nicht. Vampire dürfen eitel sein.

Andi mag die Blicke der Menschen. Geschminkte Männer sieht man nicht oft. Ganz blass ist er heute, das weiße Make-up macht seine Haut fast durchsichtig. Krank muss er aussehen, mit den rot unterlaufenen Augen, den schwarz geschminkten Lidern. Krank ist gut. Krank macht interessant. Mitleid braucht er nicht. Sein Blick zeigt das allzu deutlich. Er spürt förmlich, wie seine Augen sich verhärtet haben, wie ihr Blick starr geworden ist und er alles mit seinen Augen aufzuspießen scheint.

Er möchte nicht böse aussehen, nur anders. Und er fühlt sich gut damit. Es ist schön, wie sein schwarzer Mantel seine in Leder gekleideten Beine umweht. Endlich ist er anders. Zu lange war er einer von ihnen. Keine Lust mehr, hineinzupassen in die Gesellschaft, einer von ihnen zu sein, mit jedem verglichen werden zu können. Einmalig will er sein, etwas ganz Besonderes, jemand, der die Blicke auf sich zieht, ein schwarzer Klecks im bunten Alltag. Ein Vampir. Es gibt nicht viele Vampire.

Die Welt scheint sich um ihn alleine zu drehen, blickt nur auf ihn, übersieht all die anderen Menschen, die untergehen im chaotischen Farbenmeer, in dem ein Wesen dem anderen gleicht. Wie der Fürst der Finsternis wandelt er durch das Reich, das nun sein Reich ist, da alle Augen ihm zu Füßen liegen, da sich alle Grashalme an seine Sohlen schmiegen, der Wind mit seinem Mantel spielt. Er hat die Macht. Anderssein gibt Stärke. Schwäche ist etwas für normale Menschen, sie haben genug andere, mit denen sie ihre Schwäche teilen können, um sie gemeinsam zu Stärke zu multiplizieren. Er muss mit seiner Macht alleine haushalten. Niemand ist wie er.

Seine langen Finger mit den schwarzlackierten Nägeln schmiegen sich um den Türgriff. Er genießt diesen Augenblick. Gleich wird er heimkehren in sein Reich. Andi spürt, dass man auf ihn wartet. Hier wird er zu Hause sein. Das Zuhause der Vampire öffnet seine Pforte.

Als er die Treppen zur Kulturruine hinunter läuft, fühlt er, wie sein Selbstbewusstsein schwindet, je tiefer er steigt. Die flackernden Kerzen hüllen die Räumlichkeiten in ein angenehmes Schauerlicht, der Geruch der Räucherstäbchen stimuliert die Sinne. Die Atmosphäre ist für Vampire gemacht, Andi fühlt sich wohl.

Bevor er den 10DM-Schein über die Theke reicht, streicht er sich nervös über sein blassgeschminktes Gesicht, als müsse er Haare aus den Augen streichen, die nicht vorhanden sind. Vielleicht ist der Eyeliner verwischt?

Sogar auf der Herrentoilette sammeln sie sich mit Schminkzeug vor dem Spiegel. Man könnte doch meinen, das sei den Damen vorbehalten. Er sieht noch immer gut aus, nur die Augen haben sich verändert. Irgendwo ist Angst zu entdecken. Er fühlt sich blass. Vielleicht ist er unter dem Make-up blasser als darüber.

Andi ist einsam. Das ist bei Vampiren eben so.

Die Musik stampft sich in seinem Körper fest, er kann sich dem Rhythmus kaum entziehen, doch zum Tanzen ist er zu feige. Er hat keine langen Haare, die er durch die Gegend wirbeln kann. Er kann sich nicht bewegen wie die anderen. Zu solch extrovertierten Körperverrenkungen ist er nicht in der Lage. Fehlendes Selbstbewusstsein drängt sich zurück in den Vordergrund.

Der Junge mit den kurzen Haaren und dem blassgeschminkten Gesicht ist ein Vampir. Vampire wie ihn gibt es viele. Die Garderobe im Eingang hängt voll mit langen, schwarzen Mänteln, ist ein schwarzer Berg, in dem sich ganze Schulklassen verstecken könnten.

Keiner blickt ihn an, sie laufen an ihm vorbei, als wäre er ganz normal. Er ist ganz normal.

Andi ist nicht anders. Er ist wieder einer von ihnen.


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