Das Mädchen, das ohne zu wollen wartete

Wartete auf ein Datum, auf einen Zeitpunkt ihres Lebens, der der Letzte in diesem sein würde. Sie erfuhr es durch einen Spiegel. Sie, Desideria, die glaubte, das glücklichste Leben seit Menschengedenken zu führen, sie, die überall bekannt und beliebt war, sie, die nichts mehr liebte als die Sonne und die Fröhlichkeit und diese weiterzugeben vermochte. Eben diese Person mit den schwarzglänzenden Haaren einer indischen Tänzerin.

Ein Regenmorgen, der nicht die Fähigkeit besaß an des Mädchens Ausgelassenheit etwas ändern zu können, brachte die ebenso unerwartete wie ungeliebte Botschaft. Wie ein Lichtspiel aus Sonnenstrahlen tanzten Zahlen und Buchstaben über Desiderias, sich gerade die Haare kämmenden Spiegel-Ichs. Fern von großer Verwirrung, vielleicht mit ein wenig Erstaunen, aber ganz bei Verstand und mit wachsender Aufmerksamkeit, blickten Desiderias Augen auf die unsicher schwebenden, sich wiegenden Sonnenstrahlen, die von der Sonne nicht sein konnten, da es ein Regentag war. Während die Augen den tanzenden Spuren folgten, vernahm das Mädchen eine Stimme, die trotz ihrer Dringlichkeit und Lautstärke nicht hörbar zu sein und nicht von außerhalb zu kommen schien. War es in ihr? Der 26. April des nächsten Jahres, wird der Tag sein, den du nicht mehr erleben wirst. 26. April, 26. April spielten die Zeichen auf dem Spiegel über ihrer Stirn. 26. April, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Am 26. April werde ich nicht mehr lebendig sein, sagte Desideria laut, obwohl dies gar nicht ihr Wunsch war. Sie glaubte nicht einen Moment die Schatten aus Licht in ihrem Spiegelbild könnten einen Täuschung gewesen sein. Sie hatte noch fünf Monate und zwölf Tage zu leben.

Der Versuch, die Gedanken in andere Sphären schweifen zu lassen scheiterte erfolgreich. Desideria sah nicht mehr in Spiegel. Sie fürchtete sich vor den weniger werdenden Zahlen, die die ihr verbleibenden Tage in jeder Spiegelung, ob in einer Fensterscheibe oder einem Topfdeckel, zeigten und die scheinbar niemand außer ihr bemerkte. Alle anderen sahen nur, dass das Mädchen mit den glänzend schwarzen Haaren wohl krank sein müsse, denn es hatte kummervolle, rot geränderte Augen und das Schwarz ihrer Haare wandelte sich in stumpfes Grau. Auf eine Frage hin antwortete sie, ja, sie sei unheilbar krank. Ihre Mühen durch falsche Fröhlichkeit, gespieltes, hilfloses, welkes Lachen und vorsätzliche, ungeschickte Scherze, durch von Desideria nicht gekannte Steifheit gezeichnete Bemerkungen, wurden von allen mit Spielen derselben unehrlichen Art erwidert, in der Hoffnung, dem nun blassen, sorgenvollen Mädchen das Leben leichter zu machen und ihm zur Gesundheit zu verhelfen. "Das Leben ist eine furchtbare Krankheit, weil es nur aus Sorge um Morgen besteht", sagte sie, die es ehemals als das Vollkommenste empfunden hatte. In ihrer Trauer um sich selbst und die verzweifelte Bemühung ihre verlorene natürliche Lebensfreude durch eine Fälschung derselben zu ersetzten, verlor sie alles, was ihr Leben noch von dem Tod unterschieden hätte. Ein Tag war für sie kein Tag, ebenso wie die Stunde keine Stunde und die Minute keine Minute mehr, sondern nur noch "weniger Zeit" bedeutete. "Das Leben ist das höchste Gut des Menschen", pflegte eine Weise zu sagen, aber Desideria wollte es nicht hören, denn das Leben war für sie nur ein qualvolles, nicht enden wollendes Warten bis zum Ende desselben, obwohl sie dies nie erreichen wollte. Manchmal durchbrach sie der Wunsch, dass es doch endlich der 25. April sein möge, dann wiederum wünschte sie, die Zeit würde rückwärts laufen. Schwach vom Tragen der immer schwerer auf ihr liegenden Last und von all ihrer unvergleichlichen Fröhlichkeit und von des Lebens Freude verlassen, die Sonnenstrahlen wegen ihrer Ähnlichkeit zu den Lichtzeichen im Spiegel nur noch als gehasste Boten des Unabwendbaren empfindend, liebte sie, wenn sie noch hätte lieben können, die finsterste, sternenloseste Dunkelheit. Und dann kam der 25. April.

Der eiligst herbeigerufene Arzt konnte nur noch den unheilbaren Fortschritt der Krankheit feststellen. Einer Krankheit, deren Ursache Angst vor dem Unbekannten und die Phantasie eines Menschen waren.