"Schrumpfe deinen Körper, schrumpf ihn zum Skelett. Knochen können nicht fühlen, Fleisch verrät."

Wenn man Julia gegenüber äußert, dass sie gut aussieht, begeht man einen großen Fehler, obwohl man die Wahrheit sagt. Jedes Kompliment, das ihrem Körper gilt, ist für das 16jährige Mädchen ein Stich mitten ins Herz. Der Körper gehört nicht zu ihr. Er ist ihr größter Feind. "Ich möchte meine Seele vom Körper lösen, diesem so verhassten Etwas", erzählt sie mit leerem Blick. "Dieses Stück Fleisch benutze ich doch nur, um mit dem körperlichen Schmerz den seelischen zu bekämpfen."

Julia trägt Docs und hat grüne Haare, ist 1,60m groß und wiegt 47 kg. Das ist wenig, aber doch fast noch im gesunden Bereich. Gerade das missfällt ihr. Eines ihrer Ziele ist der totale Zusammenbruch, ihr Wunsch ist es, jung zu sterben. Dieser Wunsch wird vielleicht in Erfüllung gehen, wenn sie weiter lebt wie bisher. Entweder sie isst monatelang überhaupt nichts oder sie erbricht alles, was sie zu sich nimmt.

Die totale Kontrolle über ihren Körper möchte die Realschulabsolventin haben, sie will ihm um keinen Preis zum Opfer fallen. Darum verweigert sie die Nahrungsaufnahme. Ein Paradox in sich. Aber für Julia völlig logisch und praktische Realität, Hungern ist für sie genauso normal wie für andere das Essen.

In ihrem Gesicht ein hämisches Grinsen, der Blick irgendwo in anderen Welten. Sie hat keine Probleme. "Mir geht es gut. Ich fühl mich wohl." Auch, wenn andere sie krank nennen. Auch, wenn Eltern und Freunde wollen, dass sie eine Therapie macht. "Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder normal zu essen. Ich will das auch gar nicht. Einmal war ich bei einer Ernährungsberaterin, aber das hat nichts gebracht. Was sie sagte, ging zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Ich will ja gar nichts ändern."

Laut den Diplompsychologen Andreas Schnebel und Patricia Bröhm leiden 3 Millionen Frauen allein in Deutschland an der Fress-und-Brech-Sucht Bulimie, jede Hundertste der Frauen zwischen 14 und 25 ist magersüchtig.

Im Fernsehen werden wir über das Thema ständig auf dem Laufenden gehalten, in Talkshows geben sich spindeldürre Mädchen die Klinke in die Hand. Bei Julia fing alles durch eine Talkshow an. Als bei "Arabella" über Bulimie gesprochen wurde, war sie begeistert von dieser Abnehm-Methode und rannte somit als 12jährige das erste mal nach dem Essen auf die Toilette, um alles wieder auszubrechen.

Talkshows animieren aber nicht nur zur Nachahmung, sondern verbreiten auch ein sehr unvollständiges Bild von Essstörungen. So wird immer wieder davon gesprochen, dass der Schönheitswahn Schuld an Magersucht sei. Es heißt, die Mädchen wollen um jeden Preis dünn sein.

Julia will nicht dünn sein, sie will vollkommen verschwinden, ihren Körper zerstören. Dass sie nichts isst, ist gezielte Auto-Aggression. Sie führt einen Krieg gegen ihre körperliche Hülle - und das seit fünf Jahren.

Während sie erzählt, geht eine Ratte auf ihrer Schulter spazieren. Von diesem Haustier weiß ihre Mutter nichts. Ihre Mutter hat vieles falsch gemacht. "Sie behandelt mich nicht wie eine Gleichberechtigte, sondern wie ein kleines Kind. Ich muss mich an alle Abmachungen halten, aber sie natürlich nicht. Ich fühle mich permanent verarscht von ihr. Zwischen uns herrscht ein richtiger Konkurrenzkampf." Julia kämpft mit gefährlichen Waffen. Ihre Mutter findet sonst immer einen Weg, sich durchzusetzen, doch gegen Julias Nahrungsverweigerung kommt sie nicht an. Julia kann nicht aufgeben. Wenn sie aufgibt, hat sie verloren. Drum muss sie weiterhungern.

Ihr permanentes Grinsen scheint die Unsicherheit überspielen zu wollen. Auf dem Bett sitzend hat sie die Beine nahe an ihren Körper gezogen. Sie stockt kein einziges mal beim Erzählen, genauso gut könnte sie überīs Wetter sprechen: "Eine andere Möglichkeit, wieso es eventuell dazu kommen konnte, ist, dass ich oft dieses Versager-Gefühl hatte. Als ich mit dem Kotzen anfing, hatte ich endlich einmal Erfolgserlebnisse. Dann, wenn ich mich auf die Waage stellte. Es war eine gute Zeit."

Abhängig vom Hungern ist sie überzeugt davon, ihre Unabhängigkeit zu verlieren, sollte sie das Essen wieder aufnehmen. Ein Denkfehler fällt ihr hierbei nicht auf. Ohnehin kreisen ihre Gedanken permanent um das Essen und um das Abnehmen. Ablenken kann sie sich nur dann, wenn sie mit anderen Leuten spricht. Sobald sie alleine ist, wird sie von ihrem Körper verfolgt.

"Meistens fühle ich mich wie berauscht", berichtet sie mit gelassener Stimme. "Ich bekomme kaum mehr etwas von meiner Umgebung mit. Alles dreht sich um Hungern, Essen und Kotzen. Das Leben zieht an mir vorbei."

Das Punk-Mädchen ist verliebt. Ihr Freund macht sich große Sorgen, doch Julia möchte mit ihm nicht über das Thema sprechen. "Ich weiß nicht, ob ich es für sonderlich gut halten soll, dass er sich so intensiv damit beschäftigt." Sie will ihn um keinen Preis verlieren, doch trotzdem würde sie für ihn nie das Hungern aufgeben, das sich-weg-Hungern.

"Ich hasse meinen Körper" flüstert sie und schließt die grün-braunen Augen. "Der Gedanke, mich selbst zu zerstören, fasziniert mich. Irgendwie scheint das meinem Dasein einen Sinn zu geben, das ich darüber nachdenke, wie ich sterbe." Julia begeht Selbstmord. Eine sehr, sehr langsame Art des Selbstmordes.

Das Wort "Magersucht" gefällt ihr nicht. In ihren Augen ist es auch keine Krankheit, lediglich eine Krankheit für ihre Umgebung. "Magersüchtig bin ich nicht." Sich umbringen und dünn sein wollen, das ist ein großer Unterschied. Darum findet sie es auch schade, dass der Großteil der Gesellschaft glaubt, die sogenannten Magersüchtigen würden einfach nur einem Schönheitsideal hinterherrennen. Von Schönheitsidealen hält Julia nichts und rebelliert mit ihrem Grunge-Look gegen die Mode. "Ich habe das Gefühl, dass immer mehr Menschen anfangen, andere auf ihren Körper zu reduzieren. Ich komme mir nicht mehr wie ein individueller Mensch vor, sondern wie etwas, das andere erschaffen und führen, wie sie es gerne hätten."

Julia möchte ihren Körper verschwinden lassen, damit sie niemand mehr darauf reduzieren kann. Das ist ihre Art, sich gegen die allgemeine Körperbezogenheit der Menschen aufzulehnen. Und darum wird sie so lange nichts mehr essen, bis nichts mehr von ihr da ist. Nur noch Knochen. Und Knochen fühlen nicht.