"...bis das Blut spritzt"
seine Krankheit nennt man Intelligenz

Keiner kann wissen, was seine Augen gerade sehen. Die Wand starren sie an. Die Wand neben dem laufenden Fernseher, dessen Ton abgeschalten ist. Doch wenn man ihm in die Augen blickt, weiß man, dass er nicht die Wand sieht, sondern etwas, das sich niemand vorstellen kann, der nicht seinen Geist besitzt.

Patrick (Name geändert) umklammert die Colaflasche, als wäre sie sein einziger Halt. Er wendet seinen Blick nicht ab, als er sagt: "Manchmal, wenn ich es nicht aushalte, dann schlage ich meinen Kopf gegen die Wand. Ich schlage ihn gegen die Wand, so lange, bis das Blut spritzt. Dann spüre ich, dass ich noch lebe."

Patrick ist Autist. Kein Autist wie die, über die man Filme dreht oder Bücher schreibt. Kein Autist wie Birger Sellin, dem PUR eines ihrer Lieder widmeten und dessen Buch "ich will kein inmich mehr sein" die deutsche Nation beeindruckte. Patrick ist ein Autist, der nicht erkannt wird, weil er gesund scheint, weil er spricht. Es gibt viele Autisten wie Patrick. Sie werden nur nicht beachtet.

Der Begriff "Autismus" stammt ab vom griechischen Wort "autos", welches "selbst" bedeutet. Diese Krankheit, die man also als "Selbstbezogenheit" übersetzen könnte, ist, so schreiben es die niederländischen Verhaltensforscher Elisabeth und Niko Tinbergen, "eines der kompliziertesten natürlichen Phänomene, die es überhaupt gibt." Autisten sind Menschen, die keinerlei oder wenig Kontakte zu ihrer Umwelt aufnehmen und sich völlig in sich zurückziehen. Sie sind Wesen, die wie Gefangene im Kerker ihres eigenen Ichs leben.

Auch Patrick ist gefangen. In der autisten-typischen Bewegung schaukelt er seinen Oberkörper immer wieder vor und zurück, vor und zurück, als würde bei seinem Stillhalten die Erde plötzlich aufhören, sich zu drehen. Die Worte kommen nur zögernd über seine Lippen, als müssten sie sich erst den Weg in eine andere Welt bahnen. "Ich habe Angst vor den Menschen." Obwohl er mit Fremdwörtern um sich wirft, als wäre er ein Hochschulprofessor, merkt man allzu deutlich, dass er das Sprechen nicht gewohnt ist. Die Unsicherheit bringt ihn zum Stottern.

Manche denken noch immer, Autisten könnten nicht sprechen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie können es sehrwohl, sie wollen nur nicht - oder sie wagen es nicht. Der Autist Birger Sellin erklärte das so: "Ich werde auch in Zukunft nicht reden, weil reden zu wertvoll ist, dass ich es nicht wert bin, reden zu können. Ich kann es nicht lernen, weil ich einfach Unsinn reden würde."

Fünf von 10000 Kindern, dabei viermal mehr Jungen als Mädchen, weißen das autistische Syndrom auf. Laut Statistik sind in Deutschland etwa 10000 Kinder und Jugendliche betroffen, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte, schon alleine, weil ältere Autisten oft unerkannt in psychiatrischen Einrichtungen vor sich hindämmern. Autismus zu diagnostizieren bleibt weiterhin eine Schwierigkeit, da das Krankheitsbild sich von Fall zu Fall unterscheidet und sich die Fachleute noch immer nicht über die Ursachen im Klaren sind. Und doch haben sie im letzten Jahrzehnt erhebliche Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht, wenn man bedenkt, dass noch 1989 in einer britischen Fachzeitschrift zu lesen war, dass bei rund 60 % aller autistischen Patienten der Intelligenzquotient unter 50 liegt. Fraglich ist, wie man den IQ eines Menschen zu messen vermag, der sich weigert, mit seinem Tester zu kommunizieren.

Der mathematische Intelligenzquotient von Patrick beträgt 190. Seine Stimme klingt wehmütig, als er von seiner Zeit auf dem Gymnasium erzählt: "Sachen, die ich in fünf Minuten verstanden hatte, erklärte der Lehrer zwei Monate lang. Es lohnte sich absolut nicht für mich, zur Schule zu gehen. Wenn wir eine Klausur über zwei Stunden schrieben, war ich nach zehn Minuten fertig, dabei hab ich nebenher noch Gedichte verfasst."

Als der hochintelligente Junge von der Schule flog, weil er sich dort wegen permanenter Unterforderung nicht mehr blicken ließ, erklärten ihm seine Lehrer einstimmig: "Du hättest mit 15 dein Abitur haben können!"

Nicht jeder Autist verfügt über spezielle Fähigkeiten, doch nichts wäre falscher, als zu behaupten, Autisten seien dumm. Im Film "Rain Man" stellt Dustin Hoffman einen Autisten dar, der das Telefonverzeichnis einer ganzen Stadt auswendig kennt, und das ist keine filmische Übertreibung! Schon in den 60er Jahren sorgte in den USA ein autistisches Zwillingspaar für Aufsehen. Die beiden warfen sich zehn- bis zwanzigstellige Primzahlen zu wie andere Jugendliche Frisbeescheiben.

Birger Sellin brachte sich bereits als fünfjähriger selbst das Lesen bei und speicherte mit seinem fotografischen Gedächtnis ganze Bücher in minutenschnelle ab. Er ist nicht der einzige Autist, der eine Bibliothek im Kopf hat.

Patrick hat zur Not immer Block und Stift dabei. Sein Papierverbrauch übersteigt den eines Deutschlehrers beiweitem. Die Gedanken, die er nicht aussprechen kann, weil sie niemand verstehen würde, versucht er, schriftlich in Worte zu fassen.

In unseren Denkschemata lässt sich nicht nachvollziehen, was sich in der Welt eines Autisten abspielt. Genausowenig versteht der Autist uns. Er kann das Verhalten seiner Umgebung nicht interpretieren, da es in seinen Augen keinen Sinn ergibt. Viele Autisten sind nicht in der Lage, die unwichtigen Eindrücke, die ihr Gehirn bestürmen, auszufiltern. Sie nehmen zu viel wahr, als dass sie unsere Welt ertragen könnten. Darum ziehen sie sich in sich selbst zurück. Diesen Bereich können sie selbst kontrollieren.

Und trotzdem geraten sie oft scheinbar außer Kontrolle. Sie verletzen sich selbst, da sie sich nicht trauen, ihre Aggressionen gegen andere zu richten. Patrick erklärt: "Wenn ich meinen Kopf gegen die Wand schlage, hoffe ich, dass so viele Gehirnzellen kaputt gehen, dass ich dümmer werde."

Er versteht zu viel, er sieht zu viel. Dieser große, gut aussehende junge Mann, der so schüchtern und verängstigt wirkt, meint, das Datum zu kennen, an dem der dritte Weltkrieg ausbrechen wird. Es wäre nicht das erste mal, dass er mit einer solchen Vermutung richtig läge. Er wusste genau, wann und wo sich sein Stiefvater erhängen würde – ein Jahr, bevor es geschah. Die Bilder in seinem Kopf erzählen ihm vieles, von dem er überhaupt nichts wissen möchte.

Der Ausdruck in seinen Augen wirkt wild und zugleich ängstlich. Er scheint froh über die Dunkelheit zu sein, die ihn einhüllt. Noch immer sucht sein ganzer Körper nach etwas, das er festhalten kann. Sein ganzes Wesen klammert sich an die Colaflasche zwischen seinen verkrampften Fingern. "Manchmal sitze ich die ganze Nacht über an der Bushaltestelle und rede mit mir selbst, nur um außerhalb meiner Bude mal eine vertraute Stimme sprechen zu hören." Die notorische Bewegung seines Oberkörpers scheint ein einziger flehender Hilfeschrei zu sein. Der Hilfeschrei eines Jungen, der sein Leben lang unterfordert wurde und den nie jemand wirklich verstand, da sich keiner vorstellen kann, was seine Augen sehen.

Ein Autist unter vielen. Ein weiterer, der mit der ständigen Angst vor dieser Welt lebt. Einer von denen, die gerne als dumm abgestempelt werden, da sie es in den meisten Situationen für unnötig befinden zu reden. Und doch ein Mensch von unheimlicher Intelligenz. Unheimlich im wahrsten Ursprung des Wortes. Denn seine Intelligenz ist sein Kerker. Und Patrick weiß, was der berühmte Autist Birger Sellin mit folgenden Worten meinte: "ich kann mit dieser angst nicht friedlich und still leben ich muß schreien die kasteiungen durch die angst nehmen überhand und ersticken mich ich ohneich bin ein sklave der wunderangstmacht."