Die Summe seiner Teile

Hi all,

habe mir heute mal wieder ein paar Gedanken gemacht (eigentlich auch schon gestern) und würde nun gerne wissen, was Ihr davon haltet.

Es geht prinzipiell um das Phänomen der für manche Menschen unantastbaren Schokoladennikoläuse. Es lässt sich aber genausogut auf andere Figuren wie Hasen und so ausdehen. Wenn ich weiter darüber nachdenke, lässte es sich sogar auf Vegetarier ausdehnen.

Es fing damit an, dass wir im Restaurant gestern (meine Mutter hatte Geburtstag) auf unserer Familienplatte in der Mitte einen wunderschönen Vogel, geschnitzt aus einer Mohrrübe hatten. Eigentlich war von Anfang an klar, dass wir den wohl nicht essen könnten... Aber warum eigentlich ?

Ich denke, solche Dinge bestehen aus mehr als ihren Einzelteilen (in diesem Fall Mohrrübe und ein kleiner Stick zum Halten des Federschwanzes). In ihnen steckt eine Menge Arbeit, eine Menge investierte Zeit, eine Menge Geschick und Liebe zum Detail. Der "materielle Wert" ist nur ein Bruchteil des wirklichen.
Würde man so etwas essen, so könnte man nicht anders, als in diesem Moment das gesamte Kunstwerk nur als den Rohstoff anzusehen, den man im Mund hat. Man würde es ohnegleichen herabwürdigen, degradieren.
Ich gehöre zu den Menschen, die das nur schwer können.
Ähnlich verläuft es bei Schokoladenfiguren. Sobald ich dem Nikolaus den Kopf abschlage, habe ich das Gefühl, etwas zu töten. Hier mag die in Massen geformte Schokolade weit weniger wert haben, aber trotzdem sehe ich in dem Moment des Zerlegens nicht mehr einen eine Figur, die mich ansieht, sondern nur noch den Schokoladeklumpen, den ich mir nicht mehr vorenthalten möchte.

Bis hierhin ist es noch relativ einfach, dieser Zwickmühle zu entfliehen. Der MöhrenPapagei wird nach dem Essen von der Kellnerin wieder in die Küche zurückgebracht, den Osterhasen kann ich auch stehenlassen. (Eine Bekannte hat die schon jahrelang gesammelt) Notfalls kann ich den immer noch wegwerfen, wenn er schlecht werden sollte. Aber ich sehe und respektiere ihn als ganzes und habe ihn nicht anders gesehen.

Kommen wir nun zu etwas schwierigerem. Es gibt Bücher, wie man aus Geldscheinen in Origami-artigem Handwerk Kunstwerke basteln kann. Perfekt, um den "lieben kleinen" nicht nur einen Briefumschlag in die Hand zu drücken.
Geld ist etwas anders als Schokolade. Da steht nun ein wunderschöner Turm, nur dazu gebastelt und verschenkt, um ihn wieder auseinanderzunehmen und das Geld zu *whatever* (anlegen, ausgeben, was immer man will). Und man selbst steht davor, kann das Geld vielleicht auch gut brauchen... und möchte das doch nicht nehmen. Nur dazu gebastelt und verschenkt, um kurz schön auszusehen - doch man kann es nicht zerstören. Man kann es brauchen aber will es nicht zerstören.

Ein weiteres Beispiel, was vielleicht sogar noch einfacher nachzuvollziehen ist: Knusperhäuschen.
Man nehme einige (natürlich selbstgebackene) Scheiben Lebkuchen und ein wenig Kleber (Ei mit Puderzucker, wenn ich mich richtig erinnere).
Die Lebkuchenplatten werden miteinander verklebt (4 für die Wände, darauf zwei für das Giebeldach)
Dann nehme man allerlei Köstlichkeiten, die man verwenden möchte. Haribo Erdbeeren, Gummibärchen, SchokoladenDominoSteine für den Kamin. Ein wenig Zuckerwatte für den Rauch, der aus dem Kamin steigt. Viele Schokoladenkringel mit bunten Perlen als Fenster und um das Dach zu decken. Ein paar kleine Nikoläuse vor der Tür. Das alles wird mittels des Klebers an dem Haus befestigt, wobei man natürlich nicht zuwenig auch von dem Kleber selber verzehrt.
Mit ein wenig Phantasie und viel Zeit entsteht daraus etwas wundervolles.

Und was dann ?
So etwas kann man nicht selber essen (okay, so mancher Mensch kann das, ich kann es nicht) - nicht nachdem man es selber gebaut hat. So etwas kann man nur verschenken. Möglichst an kleine Kinder, die sich umsomehr darüber freuen.

Oder geschenkt bekommen. Aber solch ein Haus geschenkt zu bekommen, ohne jemals selbst eins gebaut zu haben, oder eines geschenkt zu bekommen, nachdem man weiss, was so etwas bedeutet, ist ein enormer Unterschied. Man kann es nicht mehr auf die gleiche Art essen wie früher.

Okay... das hier wurde schon etwas länger, als ich das geplant hatte... letzter Punkt: Vegetarier.
Was ist das Stück Fleisch, was auf dem Teller liegt ? Sieht man das Tier, welches einmal gelebt hat ? Vielleicht "glücklich" war, vielleicht auch in Zwang gehalten wurde, aber auf jeden Fall gelebt hat ? Ein volles Lebewesen mit Persönlichkeit ? Oder hat man es schon auf das Stück Fleisch reduziert, was da gekocht, gebraten, frittiert oder *whatever* vor einem liegt und nur noch dazu bestimmt ist, im Mund zu verschwinden oder weggeworfen zu werden ?
Ich denke, wer Fleisch ist, sieht nur noch das Stück Fleisch. Würde er das Tier, das Leben sehen, dann könnte er es nicht essen, oder es würde ihm übel werden, sobald er es zwischen den Zähnen hätte.

Mir wurde heute übel. Ich weiss nicht, ob ich irgendwann Vegetarier werde, aber ich kann Fleisch nicht mehr so essen wie früher.