Crissy ist draussen


27.11.20xx
Crissy ist draussen. Sie haben sie erwischt... Crissy war aber auch einfach unvorsichtig... Hat gestern auf dem Weg nach Hause noch ihr Gedicht geschrieben und es einfach vergessen, vor der Schule aus der Tasche zu nehmen.
Miss Sanya ist ja wirklich schon tolerant. Hat schon öfters gesagt, dass ihr ganz egal ist, an wen wir in unserer Freizeit glauben. Aber während der Schulzeit darf es keinerlei Kritik oder Zweifel an Ctlu geben. und Crissys Gedicht fiel auf jeden Fall in die falsche Kategorie.
Danach ging alles eigentlich ganz schnell. Wobei auch nicht viel zu tun war. So eine Plastikkarte ist schnell zerschnitten und auch das ist nur ein symbolischer Akt, weil es eigentlich um den Eintrag im Computer geht.
Vielleicht sollte ich hier erstmal erklären, was es mit der Karte auf sich hat.

Aus der Schule raus darf jeder.
Jederzeit.
Sicherheitsvorschrift für Feueralarm und sowas.
Rein darf man allerdings nur, wenn man die richtige Karte durchzieht.
Und das auch nur zu den richtigen Zeiten.
Wer um 12 Unterricht hat und um 8 rein will, muss sich erst rechtfertigen.
Bei unserem Hausdrachen - wie es aussen heisst, bei der ehrenwerten Miss Tri, wenn man sich in der Schule befindet.
Ist man kein Schüler, ist ebenfalls Dialog gefragt.
Hat man keine berechtigten Gründe, bleibt man draussen.
Hat man seine Karte nur noch in Schnipseln, sperrt der Automat auch.
Muss man sich vorstellen, wie die Drehkreuze an Zoo- und Parkeingängen.

Wozu es diese Maßnahmen gibt ?...
Man hat der Regierung deutlich gemacht, dass diese zum Schutz unseres Nachwuchses und zur Abwehr potentiell gefährlicher Nicht-Schüler sinnvoll ist.
Ich glaube, schon da hätte kein Politiker mehr Veto einlegen können, schon da hatten sie die Schulen nicht mehr in der Hand.
Was aber auch irgendwie zu erwarten war. Gebe ich die Verantwortung für irgendwas ab, privatisier ich etwas, habe ich keine Kontrolle mehr darüber.
Irgendwann hatten sie es satt, die Schulen mit durchzufüttern, haben sie privatisiert und Stück für Stück verkauft. Der Käufer war mehr als zahlungskräftig.

Zunächst natürlich war das unheimlich gut. Die Ausrüstung wurde modernisiert, längst überfällige Renovierungen wurden vorgenommen und in F17 regnete es nicht mehr durchs Dach.
Regierung war begeistert, hat sich für die Verkaufsentscheidung gelobt und wichtigeren Dingen zugewandt.
Dann begannen die kleineren Änderungen. Alte Lehrer wurden entlassen (in die freie Marktwirtschaft, wie es so schön heisst) und dafür kamen endlich ausreichend neue, jüngere Lehrer an die Tafeln. Die letzten offenen Politikeraugen waren begeistert.

Anschliessend wurde der Religionsunterricht verändert. Man konnte nicht mehr verweigern, es wurde nicht mehr ev. und kath. getrennt und die neuen Bibeln waren etwas anders als die vorherigen, die natürlich weg mussten, weil sie ausgefranst waren und Seiten fehlten.
Kurze Zeit später waren Tagesgebete Pflicht und es ging nicht mehr um "Gott", sondern um "Ctlu". Auch tauchten in den neuen Bibeln Dinge auf, die selbst die bibelfestesten Mitschüler in den alten nie gesehen hatten.
In der Zeit gab es dann auch die ersten Schulverweise wegen religiöser Untreue. Zweifel, Kritik an, Satire oder abwertende Kommentare über Ctlu können einfach nicht geduldet werden. So stand es in den frisch aufgehängten neuen Schulordnungen.
Die betroffenen Schüler wandten sich an Kirche, Regierung und Gerichte und wurden dort allesamt abgewiesen.
"Wenn man irgendwo seine Ausbildung absolviert, dann muss man sich auch die dort geltenden Regeln halten oder sich eine andere Schule suchen."
Natürlich blieb ihnen nichts anderes übrig. Es gab ja noch ein paar freie Schulen. (Wobei natürlich die vom Ctlu-Management eingekauften nicht "unfrei" sind... So lange man drin sitzt)
Diese sind aber insofern frei, dass sie sich über die Schüler, Eltern und Spenden finanzieren, die Bücher und Atlanten den Stand von 1947 haben, ein überalteter Lehrer auf 70 Schüler kommt und der Abschluss einen hinterher dazu berechtigt, professionell Müll zu sortieren.
Kurzum: Man setzt viel aufs Spiel, wenn man zweifelt.

Natürlich darf man abends, ausserhalb der Schule, sagen und denken was man will - zumindest sagt Miss Sanya, dass ihr das egal ist - aber kaum jemand hat Lust, sich diesem "Doppelleben" hinzugeben. Zu gefährlich sind kleine Ausrutscher und immer wieder wird man durch andere daran erinnert.

Ich hoffe, Crissy verkraftet das. Vor ein paar Wochen hat sich jemand nach einem Verweis das Leben genommen. Aus Ctlu-Sicht natürlich ideal als Abschreckung... aber ich möchte sie einfach nicht verlieren.

Kein Wunder, dass viele einfach bequem auch in ihrer Freizeit sich anderen, ungefährlicheren Dingen widmen als Religionsfragen. Schliesslich läuft ja immer wieder Fussball und auch das neue Netzspiel erinnert nicht an Ctlu-Fragen.

Miss Sanya... Ich glaube manchmal, dass sie privat auch anders ist... dass auch sie im geheimen ihre Gedichte schreibt und Bilder malt... und dann weit weg von der Schule lagert.
Miss Sanya gehört ja zu den "Blutpakt"-Lehrern. Sie hatte noch angefangen aus Interesse Lehramt zu studieren. Irgendwann aber wurde das Studium so teuer, übersteuert und privat unbezahlbar, dass sie sich dazu entschieden hat.

Blutpakt ist eine inoffizielle Bezeichnung für den Vertrag, den man da unterschreibt. Es ist nur ein bissiges Gerücht, dass er mit Blut unterschrieben wird.

Da gibt es auf der einen Seite eine Firma mit viel Geld, die bereit ist, dem Studenten das Studium weiterzufinanzieren.
Da gibt es auf der anderen Seite eine Studentin, die, wenn sie abbricht, jahrelang umsonst (aber teuer) studiert hat und dann wieder die gleichen Chancen hat, wie nach einer "Frei-"Schule.
Es gibt nur wenige, die in dem Moment das Angebot wirklich ausschlagen können.

Studentin verpflichtet sich, nach dem Studium bei der Firma anzufangen.
Sie hat x Semester Zeit. Schafft sie es in der Zeit, bekommt sie ein zum "Blutpakt" vereinbartes Gehalt und eine entsprechend hohe Position.
Ist sie nach diesen x Semestern nicht fertig, fängt sie trotzdem bei der Firma an. Natürlich zu ganz anderen Konditionen.
Wenn sich hinterher herausstellt, dass der Konzern Waffen produziert/erforscht, Tiere quält, In Schüler alternative Religionen implantiert oder Dihydrogenoxid in Lebensmittel mischt, kann die Nun-Nicht-Mehr-Studentin trotzdem nicht raus.
Wer sich verweigert, bekommt seinen grossen Schuldenberg inklusive Zinsen wieder aufgedrückt und kann sehen, wie er klarkommt.
Trotzdem ist dann ein Abschluss vorhanden.
Vorrausgesetzt, der Konzern lässt nicht seine Machthand spielen.
Uni-Aktien-halter haben erstaunlich viel Stimmrecht.

Die ersten Studis, die sich darauf eingelassen haben, sind nochmals reingefallen. Durch die Festsetzung des Gehaltes zu Beginn durften sie nach der (wahrscheinlich nicht für alle) unvorhersehbaren Crash-Inflation hochqualifiziert für zwei Brote im Monat jobben.

Ich glaube, Miss Sanya hat diesen Teil nicht erlebt. Sie verrät nicht, was sie verdient. Sie verrät auch nicht, ob sie auch ohne den damaligen Vertrag in der Schule arbeiten würde.
Manchmal befürchte ich, dass sie irgendwann überraschend durch einen neuen Lehrer ersetzt wird und wir keine Heimfreiheiten mehr haben.

Ist dieser Text jetzt als Ctlu-kritisch zu sehen ? Ich denke, ich verstecke ihn lieber tief im Schrank. und fahre jetzt zu Crissy. Sie kann ein wenig Trost bestimmt gut brauchen.