Anekdote

Der Vollmond drang mit indiskreter Helligkeit durch die nur halb geschlossenen Vorhänge des Schlafzimmers. Das Licht warf sich gegen die Möbelstücke und malte mit Schatten ein bizarr anmutendes Abbild der Realität an die Wände.

Wachend saß das Menschenkind in seine Bettdecke gehüllt da und zerriß im Geiste die Bilder der Vergangenheit, die sich über die Jahre hinweg eingebrannt hatten. Es handelte sich zuweilen um seltsame Dinge, an die das Menschenkind sich erinnerte; vor allem die schlechten sind es, deren Bilder sich hartnäckig gegen die Vernichtung wehren. Auch, wenn sie bis zur Unkenntlichkeit unsichtbar geworden sind, hinterlassen sie doch einen schalen Nachgeschmack wie in ranzigem Fett gegarte Speisen.

Dennoch scherte es das Menschenkind mit seiner glatten, milchigen Stirn nicht. Es machte weiter damit, die Erinnerung zu zerstören; aufspüren, durchleben, auslachen, pervertieren, zerfleischen, verschlingen.

- Man kann es nicht verstehen, noch kann man es ertragen, dachte das Menschenkind und kratzte sich den Schorf von den zerbissenen Lippen. - Aber es gibt so viele Möglichkeiten, was aus der ganzen Welt werden kann, wenn man nur die Einzelteile anders und nach Belieben zusammensetzt, so daß sie besser zueinander passen und das Muster einen Sinn ergibt. Dabei wird alles nur ein wenig schief und schräg und stürzt daher sehr leicht wieder in sich zusammen. Immer ist da noch irgendwo ein Teil, das man nicht bemerkt hat, das jedoch seinen Platz hat und braucht, so wie die anderen Teile jenes brauchen.

Es hatte leise zu schneien begonnen. Sanft, an unsichtbarer Schnur aufgehängt, kletterten die Flöckchen am Fenster vorbei. Das Menschenkind rieb sich über die kalte Winderhaut. Klein wie eine Puppe sah es aus, wie es die Knie an den Körper zog. Eisig war es im Zimmer, denn die Fensterscheibe war schon lange zerbrochen.

Das Muster der Adern auf den blaugefrorenen Händen sah sehr faszinierend aus. Viel Blut befand sich nicht mehr darin; es hatte sich bereits alles in den Körperstamm zurückgezogen, um das kleine Herzchen noch eine Weile warm zu halten. Das Menschenkind hörte das tapfere Herz wehklagen. Bittere Winterkälte ließ es leiden und es gab doch kein Feuer im Haus, davor fürchtete sich das Menschenkind.

- Ich möchte zu dem Ort zurück, wo ich das schöne Geräusch gehört habe, dachte das Menschenkind. Aber es war so neblig grau in seiner Seele, die vor tausend Leichnamen überquoll, daß es nicht mehr aufstehen und tanzen konnte. Wenn es hätte tanzen können, wäre vielleicht auch das schöne Geräusch zurückgekehrt. Zu lange schon lag das Menschenkind bewegungslos beschwert inn seiner Klause. Inzwischen war sein Körper zu zerbrechlichen kleinen Schemen geworden. Dabei war es gar nicht mehr verletzt. Es hatte sie doch alles umgebracht, die inneren Feinde und Schmerzen, die stets an ihm gezerrt hatten. Nun lagen sie alle niedergestreckt, aber ihre Verwesung vergiftete auch das Menschenkind langsam. Es hatte keine Chance zu entkommen.

Denn das Menschenkind war ja schon lange frei. Nichts in ihm wurde noch von außerhalb festgehalten. Dies hatte jedoch zur Folge gehabt, daß das Gewicht, das das Menschenkind nun selbst tragen sollte, zu schwer wog.

Aber es war nicht so schlimm. Das machte es leichter, den Irrlichtern zu folgen. Sie hatten immer gesagt, wer den Irrlichtern folgt und nicht dem Pfad, gerät ins Verderben. Doch das Menschenkind wußte es besser: es fühlte sich sicher im finseren Dickicht und fand seinen Weg durch den Sumpf im Traum.

Immer weiter, immer fort. Das Menschenkind war so weit gelaufen, daß es sich nun selbst aus der Ferne betrachten konnte. Klein und still saß es in seinem Bettchen. Die Augen zwei blanke Spiegel anstatt der beiden feuchten Kugeln, mit denen man die Dinge erblicken konnte, wie sie jemand schön und sorgsam hergerichtet hatte, um das Ungerade zu verstecken. Aber wer brauchte die jetzt schon noch?