Absinthgedanken

"Wenn ich den Sternenhimmel hör, sind die Wolken schon längst abgebrannt." sagst du zu mir und wuschelst dir durch die ohnhin schon verwuschelten haare. Wir stehen draußen in der Nacht, die irgendwie feucht ist und kalt. Trotzdem trägst du eine Netzstrumpfhose, die mehr Loch hat als Netz. ich erinnere mich an nutzlose Einzelheiten aus längst vergangenen Tagen. Ein Lied, das wir damals gehört haben, auf den bunten Matratzen einer chaotischen kleinen Wohnung sitzend, die irgend jemandem gehört, den irgendwer kannte.... die Farbe der Vorhänge des Fensters, das auf den hinterhof hinausging, war orange, gebatikt. Vollkommen geschmacklos. Bedeutsame Zeiten waren das damals, in einer Zeit, in der sonst nichts mehr passierte, ein Sommer des Erwachens. Ich kann mich weder an die vorangegangene noch an die nachfolgende Zeit so intensiv erinnern, wie an diese wenigen Monate. Bedeutsam war jeder Blick, jedes Minenspiel erschien einprägsam wie eine Kreissäge. Ich erinnere mich daran, daß deine Augen noch von weniger Schwarz eingekastelt waren als jetzt. Aber vielleicht liegt es am Sprühregen, daß das Schwarz sich etwas ausgedehnt hat.

Erst jetzt macht sich meine Intoxikation in voller Tragweite bemerkbar. Es ist seltsam, du, hier, die begleitenden Gefühle meines damaligen Erlebens, die über mich hereinstürzen. Aber ich bin anders jetzt, und du auch, und irgendwie hasse ich dich dafür. Sehr irrational.

Mir ist warm.

Es tut mir weh, dich heute so zu sehen. Ich kenne dich nicht mehr. Würde ich dich heute zufällig auf der Straße treffen, ich würde einfach nichts mit dir zu tun haben wollen. Ich fände dich lächerlich, bedauernswert auch in gewisser Weise. Früher warst du mal so bemerkenswert. Unglaublich.

Ich gebe zu, ich bin stolz darauf, wie ich mich entwickelt habe. Alles in meinem Leben hat zum Schluß irgendwie gepaßt und zu dem Zustand geführt, mit dem ich mich nun arrangiert habe. Ich liebe es. Und den Rest umgehe ich durch ein gutes Manipulationsgeschick.

Ich nehme an, du hast es in den Sand gesetzt. Mann, in deinem Alter noch so rumzulaufen. Peinlich. Aber das kann ich dir nicht so sagen, um der alten Zeiten willen... Ich denke, ich hab dich immer noch gern.

Aber die alten Zeiten sind tot. Es wird nie mehr so wie früher. Du trägst deine haare nicht mehr so, du bist nicht mehr das Mädchen in dunkelblauen Levis-Jeans und übertrieben hochhackigen Schuhen. Du hattest damals diese erstaunlichen Gedanken, ich mochte es, dein Mentor zu sein, aber vielleicht ist es gerade deiner Gedanken wegen so gekommen...

Keine Ahnung, was passiert ist. Lange nicht gesehen. Überhaupt, ein Zufall, unerhört. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Mir fällt wirklich nichts ein. Welch ein Glück, meine Straßenbahn.

"Ja, also, komm gut nach Hause", sage ich am Einstieg. Du lächelst, winkst. Die Straßenbahn fährt ab, ich seh dich noch da stehen. Du mußt doch frieren. Ich weiß nicht, wohin du jetzt gehen wirst. Wie doch die Zeit vergeht...